Karen Köhlers Erzählungen "Wir haben Raketen geangelt": Nur nach vorn, nur in die Zukunft
Wie besiegt man 50 Joghurts, die im Kühlschrank stehen? Karen Köhlers fesselnde Erzählungen „Wir haben Raketen geangelt“.
Das von der Autorin gestaltete Cover wirkt verspielt: Ein Sternenhimmel, unter dem der Größe nach Getier aufmarschiert, vom Insekt über heimische Waldbewohner bis hin zum Braunbär, terristrische Stellvertreter der kosmischen Lenker. Auch die Titel der Erzählungen erinnern an Kinderspiele, „Cowboy und Indianer“, „Name. Tier. Beruf.“ oder eben das titelgebende „Wir haben Raketen geangelt“.
Doch les jeux sont fait, die Zeit der Spiele ist für die Protagonisten vorbei in Karen Köhlers Erzählungsband, mit dem die 1974 geborene, gelernte Schauspielerin und geträumte Kosmonautin beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Lesen eigentlich hätte reüssieren sollen. Sie konnte nicht kommen; die gar nicht so fröhliche Geschichte von einer jungen krebskranken Frau, die sich in einem Krankenhaus als „Beuteltier“ mit ihrem künstlichen Darmausgang, der nächsten Chemotherapie und der vermeintlichen Untreue ihres Freundes quält, blieb ungehört. Vollendete Vergangenheit, die, zumindest für „Il Comandante“, der die Patientin aufzuheitern versteht, in einer vollendeten Zukunft endet.
Karen Köhler und die Frage nach der vollendeten Zeit
Die vollendete Zeit spielt in Köhlers Erzählungen, die manchmal nur aus Miniaturen zusammengesetzt oder als Postkartenperlen aufgereiht sind, eine zentrale Rolle. Weniger geschichtsphilosophisch aufgeladen, sondern generationentypisch kühler, wissenschaftlich verbrämt und der Hirnforschung entlehnt: Wir leben „permanent in der Vergangenheit. 0,3 Sekunden zu spät. Wir sehen nicht das, was wirklich da ist, sondern das, was nach Auswertung der Reize, die im Hirn ankommen, von unserem Unterbewusstsein als Wirklichkeit konstruiert wird.“
Diese dehnbaren 0,3 Sekunden, die das Gehirn zur Wirklichkeitskonstruktion benötigt, vom Wahrnehmungsimpuls bis zur Erkenntnis, fängt Köhler ein in ihren Geschichten, die stets aus der Ich-Perspektive unterschiedlicher Protagonisten erzählt werden. Die eine Woche, die der Freund der Krebspatientin benötigt, um sich der neuen Situation zu stellen; den Monat, den „Polar“ in Abstand zur Geliebten geht und mit bunten Ansichtskarten aus Italien füllt oder die 27 Tage, die eine Frau auf einem Hochsitz im Wald protokolliert, ohne Nahrung und mit schwindenden Kräften.
Immer handelt es sich hier um Ausnahmesituationen. In „Cowboy und Indianer“ ist es nach einem Raub und einer Odyssee durch die Wüste die Zufallsbegegnung mit dem Indianer Dan, die die Erinnerungsmaschine der Protagonistin in Gang setzt und traumatische Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend aufruft. Durch das Wiedersehen mit dem erfolgreichen Jugendfreund Björn erlebt sich die auf dem Dorf zurückgebliebene Ich-Erzählerin noch einmal als Doppelverlassene. Und in der Groteske „Starcode Red“, die vom Leben einer Entertainerin auf einem Kreuzfahrtschiff handelt – Arbeiter auf der einen, „Freizeithaber“ auf der anderen Seite – wird ein Landausflug zum Anlass, aus dem unwürdigen „Quallen“-Kostüm auszusteigen.
Bei aller Aussichtslosigkeit: Köhler behält ihren Optimismus bei
Bestechend an diesen jeweils sehr eigenständigen Geschichten sind nicht nur die fantasiefreudig entworfenen Situationen, sondern insbesondere die oft nur mit wenigen Strichen und eindrücklichen Bildern hingeworfene Dramatik der existenziellen Lage: „Sheila hatte alle Farben mit nach Kamerun genommen“, heißt es in der Erzählung „Familienporträts“. Eine Protagonistin wühlt im Müll des Geliebten, um ihm nahe zu sein. Eine andere fühlt sich mit ihrer dementen Schwester als „Verbündete im Kampf gegen 50 Joghurts im Kühlschrank. Gegen verlegte Schlüssel, Portemonnaies und drei nagelneue Bügeleisen im Kleiderschrank.“
Bei all dem ausweglos scheinenden Leben, bei allem Verlust, behält Köhler einen unverwüstlich optimistischen Grundton bei, denn sie weiß die Zeit auf ihrer Seite: diese langen 0,3 Sekunden, die es braucht, um sich in eine Wirklichkeit zu katapultieren, in der es sich aushalten lässt. Diese Zeit kann sich dehnen „wie Kaugummi, aus dem der Geschmack entwichen ist“, sie kann eindicken, bis man unter ihrem Gewicht „ganz krumm“ wird, aber sie „fließt nur in eine Richtung. Nur nach vorn. Nur in die Zukunft“, danach strebend, „die Dinge von einer hohen energetischen Ordnung in einen möglichst niedrig aufgeladenen Zustand zu überführen.“
Von diesem Prozess energetischer Umwandlung leidvoller Erfahrung handeln Köhlers meist übermütig angelegte und immer fesselnde Erzählungen, die mit ihrem spielerischen Charakter die berufliche Herkunft der Autorin nicht verleugnen. Die Vergangenheit ist vollendet, Klagenfurt erledigt – und die Zeit strebt, wie gesagt, nur nach vorn.
Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt. Erzählungen. Hanser Verlag, München 2014. 237 Seiten, 19,90 €.