Lenny Kravitz in der Berlin Columbiahalle: Nur die Liebe zählt
Retro-Rock und Schmachtfetzen: Lenny Kravitz spielt ein höllisch lautes Konzert in der Berliner Columbiahalle
Saxofone sind neuerdings wieder erlaubt. Jahrelang in den Giftschrank der Achtziger-Jahre-Geschmacklosigkeiten verbannt, hupt es derzeit vermehrt bei IndieKünstlern wie The Rapture oder Bon Iver bis hin zur Großraumdisco-Königin Lady Gaga. So wirkt es fast schon trendgemäß, wenn Tenor-Saxofonist Harold Todd in der ausverkauften Berliner Columbiahalle ein ums andere Mal zu seinen Soli ansetzt, die aus zwanzig Jahre alten Lenny-Kravitz-Songs stammen.
Um Moden hat sich Kravitz noch nie gekümmert. Er war schon immer retro und huldigte offenherzig seinen Vorbildern Jimi Hendrix, Stevie Wonder, John Lennon, Led Zeppelin und Prince. Kravitz ist ein guter Beweis dafür, dass Rückwärtsgewandtheit eine prima Sache sein kann: Ihm gelangen viele Hits, die die alten Helden schlicht vergessen hatten zu schreiben. Wie zeitlos und zwingend seine Mischung aus Rock-, Funk- und Pop-Songs bis heute ist, stellt der 47-jährige New Yorker in seiner knapp zweistündigen Show eindrucksvoll unter Beweis. Das hendrix-hafte Lick von „Always On The Run“ lässt er schon nach wenigen Minuten durch den Saal zucken. Sogleich krallt es sich im Ohr fest, umpulst vom unwiderstehlichen Bass-Groove. Während des leicht hysterischen Gitarrensolos spielt er Rücken an Rücken mit Craig Ross, seinem treuen Gitarren-Bruder mit dem Wuschelhaar.
Rock’n’Roll-Posing der alten Schule zeigt Kravitz an diesem Abend ausgiebig, wobei er aber überraschend wenig machohaft zu Werke geht. Im Fellwestchen, offenen Winterboots und mit langen Ketten behängt kommt er sogar ein wenig tuckig rüber. Der Eindruck wird noch verstärkt durch Kravitz’ verhuscht wirkende Begrüßungsansage, in der er von seinem ersten Berlin-Auftritt erzählt. Damals wurde gerade die Mauer abgerissen, was ihn sehr beeindruckte. Auch das Liveprogamm führt tief in die Vergangenheit. Seinen ersten drei Alben widmet Kravitz viel Raum, die drei Platten aus den nuller Jahren ignoriert er hingegen komplett – eine kluge Entscheidung. Vom aktuellen Album „Black and White America“, mit dem er seine Formkrise zumindest teilweise überwunden zu haben scheint, sind vier Songs dabei. Vor allem das poppige „Stand“ mit seinem munteren Mitklatschrhythmus macht sich gut in diesem Greatest-HitsUmfeld. Das Titelstück lässt Kravitz, anders als auf dem Album, mit dem versöhnlichen Refrain beginnen. Anschließend singt der Sohn eines weißen Juden und einer schwarzen Christin zu schickem Bläser-Satz und Slap-Bass über Rassismus und Versöhnung.
Die siebenköpfige Band hält sich dicht an die Originalarrangements der Songs, Spielraum für Improvisation oder Variation gibt es nicht. Der Sound ist höllisch laut und bollerig – er wäre wahrscheinlich in der Mehrzweckhalle am Ostbahnhof genau richtig. Hier geht es hart an die Schmerzgrenze. Zum Glück packt Kravitz im Mittelteil die Balladen aus. „Fields of Joy“, „Stand By My Woman“ und „Believe“ sind großes Schmachtfetzen-Entertainment. Der Sänger, der schon lange keine Rasta-Mähne mehr trägt, legt Sonnenbrille und Fellweste ab und gibt den edlen Romantiker. Er ist gut bei Stimme, wird aber auch tatkräftig von Gitarrist und Bassistin unterstützt. Und vom Publikum, das selbst bei der viertelstündigen Version von „Let Love Rule“ nicht müde wird, die Titelzeile wieder und wieder zu singen. Zum Dank macht der Meister einen Spaziergang durch die Masse. Liebesbeweis gelungen. Nadine Lange
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