Diskussion im Berliner HAU: "Nur aus der Opferperspektive können wir die DDR nicht verstehen"
30 Jahre nach ihrem Ende kommt Bewegung in den Diskurs über die DDR. Eindrücke von einer Diskussion im Hebbel-Theater mit Berlins Kultursenator Klaus Lederer.
„DDR neu erzählen!“ Der Imperativ prangt groß über der Bühne des Hebbel-Theaters. Darunter: die Köpfe des Berliner Kultursenators Klaus Lederer von der Linken, der Autorin und Performerin Luise Meier, des Schriftstellers und Historikers Karsten Krampitz und der Kulturwissenschaftlerin Carola S. Rudnick, die als Diskussionsgäste zum Thema geladen sind. Das Hebbel am Ufer (HAU) ist nicht die erste Institution, die versucht, im 30. Jahr nach dem Mauerfall – und im Rahmen eines mehrtägigen Festivals mit Performances und eben Debatten – Bewegung in den DDR-Diskurs zu bringen. Die also, um es mit Karsten Krampitz zu sagen, die DDR weder „verklären“ noch „dämonisieren“ will. Denn in einem derart polarisierten Geschichtsbild fänden sich neunzig Prozent der Ostdeutschen nicht wieder.
Das Thema hat Konjunktur. Vor einer Woche förderte bereits das Theater-Kongress-Format "Palast der Republik" im Haus der Berliner Festspiele diesbezüglich interessante Stimmen zu Tage. Dass hinterher wirklich jemand mit einem völlig neuen DDR-Bild nach Hause gegangen wäre, ist zwar für jene Veranstaltung genauso wenig zu vermuten wie jetzt für die Diskussion im voll besetzten HAU 1. Aber anregende Blickachsenverschiebungen gibt es allemal.
Wohltuend hohes Niveau
Im HAU steigt die gebürtige Hamburgerin Carola S. Rudnick, die 2011 zur DDR-Aufarbeitung promovierte und jetzt die "Euthanasie"-Gedenkstätte Lüneburg leitet, mit ihrem Impulsvortrag gleich auf wohltuend hohem Niveau ein. Und benennt direkt eine der "Schieflagen", an denen die DDR-Erinnerungskultur aus akademischer Sicht kranke: Dadurch, dass die Historisierung der DDR direkt mit ihrem Ende eingesetzt habe, so Rudnick, sei die Aufarbeitung zuerst nicht von Historikern unternommen worden. Vielmehr hätten (interessensgesteuerte) Politiker die Deutungshoheit gewonnen beziehungsweise Zeitzeugen, die - Stichwort ehemaliges Stasigefängnis Hohenschönhausen - massiv unter dem DDR-Regime gelitten haben: Moralisch nachvollziehbar, aber für die historische Einordnung, so Rudnick, nicht immer und unbedingt förderlich. Auch Täterforschung sei wichtig: "Nur aus der Opferperspektive können wir Geschichte nicht verstehen."
In der von der Missy-Magazine-Herausgeberin Margarita Tsomou moderierten HAU-Diskussion gelingt nun tatsächlich das Kunststück, die aufarbeitungserschwerende "Diskrepanz zwischen persönlicher Erinnerung und historischer Forschung" für zwei Stunden produktiv zu machen. Das Wechselspiel zwischen der akademischen Analyse und den Beiträgen der "Erlebnisgeneration" in persona Lederer, Meier und Krampitz, die alle in Ostdeutschland geboren wurden, verläuft hier weniger konfrontativ als erhellend additiv.
Lederer: "Die Opfer haben nicht massiv den Diskurs bestimmt"
Er habe nicht den Eindruck, widerspricht Lederer etwa Rudnick, "dass die Opfer massiv den Diskurs bestimmt haben." Zu wenig jedenfalls, auch in puncto Anerkennung, wenn man sich die "gebrochenen Biografien, die Ausbürgerungen, die Zwangsadoptionen" vergegenwärtige, die das "repressive System" zu verantworten hat. "Ich rede von der DDR selbstverständlich als von einer Diktatur", sagt Lederer. Er trage ja hier gleichsam drei Mäntel: den des Kultursenators, den des Zeitzeugen, der selbst bis zum 14. Lebensjahr in der DDR gelebt hat, aber eben auch den als Mitglied einer Partei, die historisch in der Verantwortung steht. Er selbst habe sich "immer mehr radikalisiert", was die "Härte der Kritik an der DDR" betrifft. Spätestens, seit er seinerzeit am Runden Tisch von Berlin für die Jugend gesessen und "live mitbekommen" habe, "wie Machtapparate wie die Stasi funktionieren."
Auf hohem Niveau diskutiert werden ferner die Differenzen und die im öffentlichen Diskurs präsenten Vergleiche von NS- und DDR-Diktatur: Für ihn, so Lederer, stand und steht "immer im Zentrum, den Zivilisationsbruch der Shoah, seine Singularität, nicht zu relativieren." Kritisch hinterfragt werden in diesem Zusammenhang auch Instrumentalisierungsfiguren; etwa die antifaschistischen Legimitationsstrategien der SED-Nomenklatura.
Wie die DDR-Keule zu einem Mangel an kapitalismuskritischer Forschung führt
Die Autorin und Performerin Luise Meier - die mit 34 Jahren jüngste Diskutantin, die beim Mauerfall noch nicht in die Schule ging - stört aus der historischen Distanz heraus indes vor allem, dass heute jedes Argument, "das in Richtung Bremsung des Kapitalismus geht", mit dem Verweis auf die DDR-Diktatur narkotisiert werde: Tatsächlich, bestätigt Rudnick, habe diese "Keule" im universitären Bereich zu einem Desiderat kapitalismuskritischer Wirtschaftsforschung geführt. Davon abgesehen, so die Expertin, werde die DDR in der Aufarbeitung viel zu isoliert betrachtet, wie "unter einer Käseglocke". Dabei fehle "ein wichtiges Puzzlestück", wenn man die internationale und speziell auch "binationale Perspektive" der deutschen Wiedervereinigung vernachlässige; mithin die BRD, "der es natürlich auch um die Stärkung der westdeutschen Wirtschaft und um neue Absatzmärkte ging".
Bleibt also noch genügend Diskussionsstoff für künftige Podien, zumal ja auch noch längst nicht alle Akten zugänglich sind. Aber der im HAU eingeschlagene Weg ist schon mal vielversprechend.