Kultur: Normal ist schon verrückt genug Heute in Berlin: Der holländische Publizist
Geert Mak liest aus „Das Jahrhundert meines Vaters“
LITERATUR
Als im Oktober 1934 auf der Strecke London-Melbourne ein Flugwettbewerb veranstaltet wurde, schickten die meisten Nationen modernste, eigens konstruierte Spezialflugzeuge ins Rennen. Hollands KLM aber setzt den Uiver, den Storch ein: eine normale Linienmaschine, mit drei Passagieren an Bord und Säcken voll Post. Die fliegenden Holländer landen einen sagenhaften Platz zwei. Ein Uiver-Fieber befiel das Land. Es gab Uiver-Abzeichen, Uiver-Zigarren, Uiver-Souvenirteller, Uiver-Lieder. Gefeiert wurde, so schreibt Geert Mak, „der endgültige Sieg des holländischen Credos: Normal ist schon verrückt genug.“ Die kalvinistischen Tugenden Bescheidenheit, Schlichtheit und Solidität hatten triumphiert. Zwei Monate später stürzte der Stolz der Nation beim Transport von Weihnachtsbriefen ab.
Der Verlust des Uiver nahm vorweg, was den Niederlanden in den kommenden Jahrzehnten bevorstand: der Abschied von der Normalität. Am Ende des Jahrhunderts, das der holländische Publizist Geert Mak in seinem Buch zugleich als das „Das Jahrhundert meines Vaters“ erzählt, ist kein Diktum mehr, was es war, nicht die holländische Neutralität und nicht das Verbot fleischfarbener Strümpfe, nicht die kulturelle Suprematie der Weißen in den Kolonien und nicht die Autorität der Väter am Tisch der Familie, nicht das Haus der Oranier und schon gar nicht der kalvinistische Gott.
Der gesellschaftliche Wandel auf den Gebieten von Familie, Glaube, Bildung oder Konsum geschah mit atemberaubender Geschwindigkeit. 1950, hat der vier Jahre zuvor geborene Geert Mak herausgefunden, lehnten neun von zehn holländischen Frauen Geschlechtsverkehr vor der Ehe ab, 1965 war es nur noch eine von vier. 82 Prozent der Niederländer waren 1965 der Meinung, Frauen gehörten hinter den Herd, fünf Jahre später hatte die Mehrheit gegen eine Tätigkeit von Müttern außer Haus keine Bedenken mehr. 1955 gab es in Holland knapp 30000 Studenten, nur 14 Jahre später mehr als dreimal soviele. 1966 glaubten fast alle orthodoxen Kalvinisten uneingeschränkt an die Bibelauslegung dieser Glaubensrichtung, 1979 nur noch 75 Prozent, 1996 grade mal ein Drittel. Himmel und Hölle sind die holländischen Anwärter ausgegangen.
Augen im Alkohol
Geert Maks Vater, dessen Biographie der Sohn mit der Jahrhundertgeschichte seines Landes verknüpft, wurde 1899 als Sohn eines Segelmachers im Schwarzen Nazareth bei Rotterdam geboren. „Die Fabrikmauern sonderten einen lauen Gestank ab, die Kanäle dampften, die Augen der Arbeiter schwammen im Alkohol, die Frauen waren mager und schwanger, die Kinder husteten sich die Lungen aus dem Leib – das war das Zwart Nazareth von 1899.“ Die Säuglingssterblichkeit war hoch, Männer erreichten ein Durchschnittsalter von fünfzig Jahren. Als Catrinus Mak 1983 starb, war er 84; die Bevölkerung der Niederlande hatte sich von fünf auf 15 Millionen verdreifacht.
Nun haben Faktoren wie die enorme Beschleunigung des industriellen und technischen Fortschritts im 20. Jahrhundert oder die Demokratisierung von Bildung, Gesundheit und Wohlstand nicht nur in Holland zu gewaltigen mentalen Umwälzungen geführt. In den Niederlanden aber brachen die epochalen Veränderungen über eine Nation herein, die noch bis in die 50er Jahre aufgrund der konfessionellen und weltanschaulichen „Versäulung“ der Gesellschaft segmentiert war wie keine andere in Europa.
Geert Mak besuchte eine orthodox-kalvinistische Schule mit ebensolchen Lehrern, der Lebensmittelhändler war orthodox-kalvinistisch, bei einem reformierten oder katholischen Bäcker ihr Brot zu kaufen, wäre Maks Mutter im Traum nicht eingefallen. Die Pfadfinderschaft der Kinder war orthodox-kalvinistisch, die Eltern wählten die entsprechende Partei. „Die ganze Welt war orthodox-kalvinistisch, einschließlich der Zäune um die Häuser und der Blätter an den Bäumen.“ Mak untersucht, wie die sogenannten vier Säulen, die die holländische Gesellschaft über Jahrzehnte gespalten haben – die zwei protestantischen, die katholische und die sozialdemokratische – entstehen konnten und was sie zum Einstürzen brachte – ein Aspekt auch der europäischen Sozial- und Kulturgeschichte.
Wie Gott verschwand
Bereits mit seiner Amsterdam-Geschichte und seiner großartigen Studie über den Niedergang der dörflichen Welt in Europa, „Wie Gott verschwand aus Jorwerd“, hat Mak gezeigt, dass sich moderne wissenschaftliche Geschichtsschreibung und das traditionelle gelebte Alltagsgedächtnis, anders als Pierre Nora kulturpessimistisch formulierte, nicht ausschließen müssen.
In „Das Jahrhundert meines Vaters“ bedient Mak wieder bravourös beide Gedächtnisregister. Er, der Jüngste von sechs Geschwistern – es liegen 20 Jahre zwischen ihm und dem Ältesten –, hat sich auf der Schwelle des Makschen Pfarrhauses postiert, um den Resonanzen zu lauschen, die zwei Weltkriege, das Ende der Kolonialherrschaft und der Zusammenbruch der geopolitischen Systeme in Küche, Wohnzimmer und Schlafstube dieser holländischen Durchschnittsfamilie fanden.
Vielleicht ist es kein Paradox, sondern Ausweis großer Erzählleidenschaft und seltenen Fabuliertalents, dass die faszinierendsten und sinnlichsten Kapitel des Buches gerade die Zeiten heraufbeschwören, die Mak selbst nicht miterlebt hat, etwa die Jahre, die die Familie in den Ostindischen Kolonien zugebracht hat. Hier war Mak auf Gespräche mit Angehörigen verwiesen, auf Zeitungsausschnitte, Statistiken, Briefe und Tagebücher – papierene Dokumente, aus denen der Autor lebendige kleine Zeitkapseln gebastelt hat, wie die Geschichte vom Uiver, jenem nationalen Unglücksvogel, dessen Absturz die Mak-Kinder 5000 Kilometer entfernt von der Heimat so heftig beweint haben, dass Geert Maks Schwester Anna die Namen der toten Besatzungsmitglieder noch ein halbes Jahrhundert später hersagen kann.
Geert Mak: Das Jahrhundert meines Vaters. Aus dem Niederländ. von Gregor Seferens und Andreas Ecke. Siedler Verlag, Berlin 2003. 576 S., 28 €. Der Autor liest heute um 17.30 Uhr in der Berliner Urania und um 20 Uhr im Literaturhaus.
Almut Finck
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