Simone de Beauvoir: Niemand kommt als Frau zur Welt
Die Not der Biografen mit einer besessenen Autobiografin: zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin Simone de Beauvoir.
Das Verfassen von Biografien ist eine heikle Angelegenheit. Auf der einen Seite ein Leben, das von Zufälligkeiten geprägt ist. Auf der anderen die Form der Erzählung, die eine Handlungslogik einfordert, den Anfang vom Ende her oder wenigstens vom Höhepunkt des Lebensplots aus zu erzählen. In manchen Biografien war Simone de Beauvoir dann schon als Kind willensstark, lesehungrig und wissbegierig, und die junge Frau sah schon früh die Falle, in die die Ehe führt. Wer sich an das Leben von Simone de Beauvoir wagt, hat zudem damit zu kämpfen, dass die Autorin selbst eine Autobiografie von über 2000 Seiten vorgelegt hat, die nicht nur eine Realitätsillusion Balzac’scher Qualität erzeugt, sondern diese auch deutet und erklärt. Man muss lange suchen, um neben Beauvoir Frauen zu finden, die es in Umfang und Anspruch mit Augustinus, Rousseau und anderen männlichen Klassikern des Genres aufnehmen können.
Das Hauptmotiv für Beauvoirs riesiges autobiografisches Unternehmen ist nicht schwer zu erraten: Sie möchte die Deutungshoheit über ihr Leben behalten. Das ist nur allzu verständlich. Denn ihr Leben wurde in dem Augenblick, in dem sie eine gewisse Berühmtheit erlangte (spätestens im Alter von 41 Jahren, nach dem Erscheinen von „Das andere Geschlecht“), von einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft interpretiert, seziert und verurteilt. Um Beauvoirs Memoiren zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass vor 60 Jahren eine Frau, die Ehe und Kinder ausdrücklich für sich ablehnte, die nichts gegen eine ménage à trois (ou quatre) hatte, die sich politisch auf der Linken engagierte und sich als Intellektuelle bezeichnete, ein Skandal war, gegen den alle Outings heutiger Vips lächerlich sind. Beauvoir klotzt mit einem großen Lebensentwurf dagegen, in dem Eifersucht, Trauer über Kinderlosigkeit, tiefe Verletzungen, Einsamkeit und was das emanzipierte Frauenleben sonst noch alles zu bieten hat, keinen Platz haben. Sie schreibt in dem Bewusstsein, dass es für eine Frau viel schwerer als für einen Mann ist, die Verfügungsgewalt über die eigene Biografie zu erlangen.
Es muss schwer sein, sich als Biografin diesem verführerischen Textkorpus zu entziehen. Das sieht man an Ingeborg Gleichaufs Biografie. Sie kann sich von Beauvoirs Selbstdarstellungen nicht lösen und stützt sich neben den Memoirenbänden vor allen Dingen auf die geschwätzige 700-Seiten-Biografie von Deirdre Bair (1990), die maßgeblich auf Interviews mit Beauvoir aus den achtziger Jahren beruht. Aber obwohl Gleichauf Beauvoirs Lebensbeschreibungen folgt, schreibt sie, so paradox das klingt, wider ihren Geist. Die Darstellung des Werks kommt zu kurz. Gleichaufs Erzählung schafft eine unangenehme Nähe zur Porträtierten – wohl, weil das Buch als „Neuentdeckung Simone de Beauvoirs für junge Leserinnen und Leser“ gelten soll. Besonders ärgerlich ist das, wenn die Grenze zur Peinlichkeit überschritten wird. Sätze wie „Wenn sie zu viel getrunken hat, kann es schon mal passieren, dass sie sich in einem fremden Bett wiederfindet“ oder „Sartre verdient einen schönen Batzen Geld“ will man spätestens nach 200 Seiten nicht mehr lesen – aber man hat noch 100 vor sich, auf denen es zu allem Überfluss auch noch einen Blick auf Beauvoirs „verschlissenen roten Hausmantel“ zu werfen gilt.
Die Emphase auf dem Privat-, wenn nicht gar Intimleben, beruht auf einem grundlegenden Missverständnis. Beauvoir hat ihr Privatleben nicht ausgebreitet, damit es ihre Biografinnen später einmal nachplappern, sondern sie demonstriert damit, dass das Private politisch ist. Diese Erkenntnis war für die feministische Bewegung mindestens so wichtig wie ihr Satz „Man kommt nicht als Frau zur Welt“. Es geht Beauvoir nicht um ein Mehr an Privatem, sondern es ist ihr Verdienst, die Beziehung von Privatem und Politischem in Bezug auf die condition féminine als eine der Ersten philosophisch-systematisch reflektiert zu haben.
Anders das schmale Buch von Monika Pelz. Zunächst gibt die Autorin einen Überblick über die Etappen dieses außergewöhnlichen Lebens. Pelz ist sich bewusst, dass sie auch „ein Symbol“ porträtiert. Sie vermeidet hagiografische Töne, ohne die Person zu demontieren. Letzteres war in Mode nach den postumen Veröffentlichungen der Kriegstagebücher, der Briefe von und an Sartre und des langjährigen Briefwechsels mit dem amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren. Plötzlich wunderten sich einige Leser, dass die Autobiografie eine Inszenierung war. Ja, was denn sonst?
Pelz zeigt, an welchen Stellen die fein ziselierten Geschichten, die Beauvoir über ihre Beziehung zu Sartre erzählt, nicht stimmig sind. Der angebliche „Pakt“ zwischen beiden (Stichwort „bedingungslose Ehrlichkeit“) war nicht realitätstauglich und wurde nicht so konsequent eingehalten wie von Beauvoir suggeriert. Folgt man der unaufgeregten Darstellung von Pelz, so kann man Beauvoirs Beziehung zu Nelson Algren auch als tragische und zerstörerische Liebesgeschichte lesen.
In dieser Biografie nimmt eine Frau Gestalt an, die vor allem eine hart arbeitende Intellektuelle mit einer unbändigen Schreiblust war und für die das politische Handeln zur intellektuellen Redlichkeit gehörte. Die bis zum Überdruss reproduzierten Fotos, auf denen Beauvoir mit lackierten Fingernägeln an niedlichen Tischlein hockt, oder, wie auf dem Titelbild, graziös auf den Knien schreibt, vermitteln davon keinen Eindruck.
Beauvoirs Entscheidungen waren zu jedem Zeitpunkt ihres erwachsenen Lebens darauf gerichtet, optimale Bedingungen für ihre Arbeit zu schaffen. Diesem Ziel hat sie alles andere untergeordnet – zur Not auch menschliche Beziehungen. Und nur ihre Arbeit erklärt letztlich auch das Verhältnis zu Sartre. Die beiden waren sich gegenseitig ganz offensichtlich über lange Strecken die besten intellektuellen Sparringspartner. Das ist die Substanz des immer wieder neu inszenierten Mythos vom „großen Paar“.
Pelz wirft einen kritischen Blick auf die Romanautorin Beauvoir, die sich allen narratologischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts gegenüber resistent zeigte und deren literarisches Werk heute keine große Beachtung mehr findet. Ihrer Zeit voraus aber war Beauvoir als hellsichtige Beobachterin und Analytikerin gesellschaftlicher Prozesse. Zu einer Zeit, als noch kein Mensch von überalterten Gesellschaften sprach, schrieb sie Bücher über das Altern und das Sterben. Als das Wort gender lediglich das grammatische Genus bezeichnete, hatte sie längst eine Theorie über die kulturelle Konstruktion von Geschlecht entworfen. Pelz weist darauf hin, dass „die Beauvoir’sche Variante (des Existenzialismus) sich für die feministische Theoriebildung immer noch als fruchtbar erweist“. Überhaupt scheint über die Philosophin Beauvoir noch nicht das letzte Wort gesprochen zu sein.
Ihre unkonventionelle Art, philosophische Positionen erzählend und essayistisch zu vermitteln, ihre „konstante Vermengung von Abstraktem und Konkretem, von Allgemeinem und Einzelfall“ (Pelz) brachten ihr zu Lebzeiten den Ruf der Sartreuse ein, die das Werk des Meisters lediglich popularisierte. Unter den Prämissen der Postmoderne, die mit hybriden Diskursen unverkrampfter umgeht, kann ihre Art zu denken neu gewürdigt werden.
Lieselotte Steinbrügge
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