Kultur: Neben der Spur
Grandioses Psychogramm: Maren Ades „Der Wald vor lauter Bäumen“
Schwer zu sagen, womit der Verfall beginnt. Als sie bei einsamer Unterrichtsvorbereitung zu Hause plötzlich in stiller, kurzer Wut mit dem Farbstift die Tapete zerkratzt? Nein, früher. Vielleicht schon, als sie sich mit ihren Stullen ins Schulkabuff zurückzieht, nein, früher schon, bei der ersten Unterrichtsstunde oder in der ersten Runde mit dem überwiegend ältlichen Kollegium. Oder als sie sich zwischen einem scheußlich lila und scheußlich gelben Übertopf für die neue Pflanze nicht entscheiden kann und sagt: „Das fängt ja gut an mit uns beiden, die mag mich net.“ Nein, früher noch: Als sie sich bei Nachbarn mit „Selbschtgebranntem“ vorstellt und vor wildfremden Menschen darüber sinniert, dass eigentlich sie ihr etwas zum Willkommen schenken müssten, nicht umgekehrt. Früher, früher, früher, von Anfang an.
Melanie Pröschle ist 27, hat gerade das Referendariat in ihrer Heimatstadt Plochingen hinter sich und tritt ihre erste Stelle als Deutsch- und Biologielehrerin an einer Realschule in Karlsruhe an. Klingt eigentlich gut, klingt nach Lebenslaufsatz, Lebensanlauf, Schwung und so. Aber diese junge Frau, die immer, wenn sie die Aufmerksamkeit auf sich lenken muss, ein verlegenes Lachen wie ein kurzes Schluchzen hinterherschickt, ist irgendwie neben der Spur. Überrollt von ihrer 9. und sogar schon ihrer 5. Klasse, die ihren lockeren Unterrichtsstil als Aufforderung zum Chaos verstehen. Sich selbst bald leise an den Rand schiebend, ja, auch bloß weg von dem klebrigen Thorsten (Jan Neumann), dem einzigen anderen Junglehrer, der sie am liebsten gleich in irgendein „Orga-Team“ lotst. Und auch die Nachbarin Tina (Daniela Holtz), die sie sich um jeden Preis zur Freundin machen will, nutzt sie bloß aus. Melanie Pröschle kommt aus einer behüteten, zerhüteten Welt, die sie nicht fit gemacht hat. Nicht fürs Freundschaftknüpfen und nicht fürs Arbeiten, fürs Lieben nicht und nicht fürs Leben.
Eine Tragödie, die als vorsichtig komisches Gesellschaftsbild beginnt und in der die fantastische Hauptdarstellerin Eva Löbau so rührend echt, so erschütternd auch bald herumstakst, als sähen wir hier tatsächlicher Augenblickserfahrung zu. Melanie will unbedingt Kontakt zur Welt und erkennt nicht, dass sie aus lauter wachsender Verzweiflung immer mehr Grenzen verletzt. Sie wird gedemütigt – von den Schülern, von tuschelnden Lehrern, von der „Freundin“ –, lügt vor anderen ihre Einsamkeit weg und stürzt sich nur noch tiefer hinein. Irgendwann kommt, wenn niemand hilft, die Selbsterniedrigung, die Selbstaufgabe, die Selbstzerstörung. Irgendwann kommt die Schulstunde, in der die 29-jährige Jungregisseurin, Filmstudentin und Lehrerstochter Maren Ade ihre Melanie vor der Klasse verstummen und nach einer winzigen Ewigkeit sagen lässt: „Seid bitte ganz still, bis die Stunde zu Ende ist.“ Und weg ist sie, Tür zu, und auf einmal geben die verdutzten Schüler tatsächlich Ruhe.
Ein grandioses Debüt – gerade weil es, gedreht auf Video und mit schlichtesten Mitteln, überhaupt nichts hermacht von seiner schmerzhaften Beobachtungssicherheit, von seinen zahllosen peinlichen und bitterleisen Alltagssituationen, die sich dem Zuschauer einbrennen wie eigene Scham. „Der Wald vor lauter Bäumen“ ist das ins Äußerste ausformulierte Psychogramm eines beschädigten Lebens, kein pädagogisches so oder so gemeintes Plädoyer. Maren Ade denunziert diese Melanie ebenso wenig wie ihre Lebensumgebung, natürlich hilft sie ihr auch nicht, da sich diese Gott- und Weltverlassene doch selber helfen muss. Bis, seltsamer Trost tiefsten Alleinseins, nur noch die Kamera bei ihr ist: die abstrakte Nähe eines vertausendfachten Auges, das sie sieht. Sie und den Müll ihrer properen Vorstadtwohnung. Den Müll der Nachbarin, den sie wochenlang auf ihrem Rücksitz herumfährt. Den Beziehungslosigkeitsmüll und die plötzlichen Tränen darüber, aber auch das Weinen, wenn es denn nur hoffnungslos genug ist, geht irgendwann vorbei.
Am Schluss dieses wunderbar musiklosen Films (die Tonspur lebt vom Schwäbischen, vom Badischen, von der dialektalen Vitalität und Brüchigkeit) fängt eine Musik an. Und dies auch erst am Ende einer langen Zauberszene, die man, weil sie in ihrer Zartheit ungeheure Assoziationsräume öffnet, einfach genial nennen muss. Melanie Pröschle fährt Auto, wie schon so manches Mal; im Panzer Auto, das weiß man, ist auch der einsamste Mensch ganz in seiner eigenen Sicherheit. Und endlich sieht Melanie den Wald vor lauter Bäumen, wie ein Kind.
fsk, Hackesche Höfe, Neue Kant Kinos
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