Oscars: Nacht der Träumer
Oldies but goldies: Michel Hazanavicius gewinnt mit seiner Stummfilm-Wiedererfindung „The Artist“ den Oscar für den besten Film. Martin Scorseses "Hugo Cabret" muss sich mit den Technik-Trophäen zufriedengeben. Durch die Gala im Retro-Look führt Schauspieler Billy Crystal.
Zweistellige Oscar-Nominierungen sind gefährlich. Vor allem bei starker Konkurrenz. Da kommt es schon mal vor, dass der eben noch in den Star-Himmel gehobene Favorit binnen Stunden in der Versenkung verschwindet. Rekordhalter unter diesen Losern ist seit 26 Jahren „Die Farbe Lila“: Steven Spielbergs Film musste sich „Jenseits von Afrika“ geschlagen geben und ging trotz elf Nominierungen gänzlich leer aus. Letztes Jahr verfehlte „True Grit“ der Coen-Brüder knapp diese Marke: zehn Nominierungen, kein Oscar. „The King’s Speech“ machte das Rennen.
So grausam hätte die Oscar-Academy auch diesmal wieder sein können: Martin Scorseses „Hugo Cabret“ führte mit elf Nominierungen vor Michel Hazanavicius’ „The Artist“ mit zehn. Aber es passt zu insgesamt harmoniebedürftigen, historienseligen Jahrgang, dass die beiden redlich teilen. Ja, auf dem Papier sogar pari pari. Nur dass die fünf Technik-Oscars für Scorseses verspielte Hommage für den Filmpionier Georges Méliès auf der Goldwaage dann doch leichter wiegen als die fünf für die virtuose Stummfilm-Wiedererfindung „The Artist“. Der holt die Preise für die Regie, den Hauptdarsteller und die besonders umkämpfte Top-Trophäe für den besten Film.
Nur Zweckpessimisten hatten zuvor noch vermutet, das höchst kalifornische Unternehmen namens Oscar, gesteuert von rund 4400 Wahlmännern und 1400 Wahlfrauen, würde sich in letzter Sekunde auf nationale Werte besinnen. Also: Her mit dem Amerikaner Scorsese und weg mit dem charmanten, aber letztlich französischen Bildnaschwerk. Andererseits: Das Ding heißt ja nicht „L’ Artiste“, ist zweitens englischsprachig (zumindest in den Stummfilm-Texttafeln) und drittens durchweg in Los Angeles gedreht. Und viertens führt – zumindest derzeit – der ganze Stars-and-Stripes-Kram sowieso in die Irre. Denn auch Oscar tickt global.
Zum zweiten Mal, nach dem britischen Triumph mit „The King’s Speech“, geht die Trophäe nach Europa. Zwar nicht an die zahlreichen deutschen Aspiranten, Wim Wenders vorneweg, aber das ist nur aus deutscher Sicht bedauerlich. Oscar parle français! Und das ist genauso „formidable“ wie der überglückliche „Artist“ Jean Dujardin seinen Jubel in der Oscar-Nacht herauskrächzt. Zumal das US-Kino in Sachen Filmkunst – und um sie geht es ausdrücklich auch bei den Oscars – seit Längerem lahmt. Wozu Preise für die ewigen Sequels, die doch bloß den Markt überschwemmen? Wozu einer Fantasie applaudieren, die sich in der Konfektion von Merchandising-Figuren erschöpft? Warum den 3-D-Boom belohnen, wenn er meist nur höhere Ticketpreise generiert?
Da ist „The Artist“ von ganz anderem Kaliber. Michel Hazanavicius, in Frankreich zuvor als Gagschreiber, Drehbuchautor, Werbefilmer und Regisseur seiner „OSS 117“-Spionagekomödien bekannt, zitiert zwar die Stummfilmgeschichte, feiert sie aber zugleich in einer heiter-melancholischen Love Story, der Dujardin und die zauberhafte Bérénice Bejo, Ehefrau des Regisseurs, unvergesslich Gestalt verleihen. Nebenbei funktioniert „The Artist“ als zärtlicher Abgesang auf eine ganze Epoche. Dass er damit an William Wellmans „Wings“ anknüpft, ist eine Pointe am Rande: Als „Wings“ sich 1929 bei der ersten Zeremonie als einziger echter Stummfilm der Oscar-Geschichte durchsetzt, ist der Siegeszug des Tonfilms längst besiegelt.
Warum lässt die Academy zeitgemäße Stoffe demonstrativ beiseite?
Fraglos markiert der Doppelerfolg für „The Artist“ und „Hugo Cabret“ eine Sehnsucht nach den Anfängen des Kinos – zumal in einer Zeit, da die Kunstform Film, technisch hinunterschrumpfbar zum nahezu beliebig kleinen Unterhaltungsdatenträger, heftig an ihrer Zukunftstauglichkeit zweifelt. Vor allem aber bersten die beiden nun Oscar-Verwöhnten vor Originalität, vor Freude am Spiel mit den Möglichkeiten des Mediums, und dafür sind sie belohnt worden.
Andererseits ist auch das nominierte Mitbewerberfeld beträchtlich retro geraten – von Steven Spielbergs Pferdeoper „Gefährten“ aus dem Ersten Weltkrieg über Woody Allens Zwanziger-Jahre-Träumerei „Midnight in Paris“ bis zu dem in den sechziger Jahren spielenden Südstaatendrama „The Help“. Warum lässt die Academy provokante, zeitgemäße Stoffe wie Steve McQueens Sexsüchtigen-Studie „Shame“ oder auch Jeff Nichols’ Psycho-Katastrophenszenario „Take Shelter“ demonstrativ beiseite?
Die „Los Angeles Times“ ist soeben einem Indiz für dieses Missbehagen nachgegangen. Ihren Recherchen zufolge liegt das Durchschnittsalter der Academy-Mitglieder bei 62 Jahren, nur 14 Prozent aller Stimmberechtigten sind unter 50. Zwar vergreist die Bevölkerung der Industriestaaten weltweit, mithin auch das Gros der Kinozuschauer in den Ländern, in denen sich mit der Ware Film am meisten Umsatz machen lässt, aber die Academy marschiert offenbar auch bei diesem Trend voran.
Dazu passen die Highlights des Gala-Abends. Christopher Plummer und Max von Sydow, beide 82, konkurrieren als Nebendarsteller um ihren ersten Oscar überhaupt, Plummer nimmt ihn dann mit eleganter Gelassenheit entgegen. „Hey, du bist nur zwei Jahre älter als ich“, sagt der nun historisch älteste Oscar-Neuling zu seiner Statuette, „wo warst du die ganze Zeit?“ Und Meryl Streep, exakt im Academy-Durchschnittsalter, schwankt nach rekordhaltigen 17 Nominierungen und ihrem nun dritten Oscar (für „The Iron Lady“) bei ihrer Dankesrede zwischen echter Rührung, imponierender Selbstironie und triumphaler Weltumarmungsgeste.
Oldies but goldies! Vom 63-jährigen Billy Crystal, der nach dem schwulenfeindlichen Skandal um Zeremonie-Produzent Brett Ratner und der Absage von Eddie Murphy als Moderator eingesprungen ist, kann man das nur bedingt sagen. Zum neunten Mal seit 1990 macht er der Academy den Scherzbold vom Dienst, seinen trockenen Humor aber hält er lange gut verborgen. Stattdessen dankt er artig den Akteuren, die er für seinen Start-Einspieler gewonnen hat, entschuldigt sich noch artiger bei Nick Nolte für ein Witzchen auf dessen Kosten und macht sich im übrigen möglichst unsichtbar.
Mag sein, dass er dem matten Protest der von akutem Tiefschlaf bedrohten Live-Blogger aus aller Welt nachgibt, jedenfalls lässt er spät, aber immerhin den köstlich coolen Kitschkiller von der Leine. Nach einem Filmchen etwa, in dem Stars durchaus bewegend Einblicke in die persönlichkeitsformenden sowie bewusstseinserweiternden Aspekte ihrer Arbeit geben, sagt er steinernen Gesichts: „Solche Gefühle hatte ich nie.“
Kurz danach tritt Natalie Portman (30) als Präsentatorin auf die Bühne: Jugend! Und Jean Dujardin (39), auch noch fast jugendlich: „I love your country!“ Und irgendwo sitzt Sacha Baron Cohen (40), verkleidet als Diktator des Fantasiestaats Wadiya und bewirbt im Gaddafi-Outfit so lustig wie grob seinen nächsten Film. Frechheit siegt doch.