Kultur: Mutter trinkt, Sohn singt
Du bist satt, aber ich bin hungrig: In „8 Mile“ von Curtis Hanson spielt HipHop-Star Eminem sich selbst
Es brodelt unter der Mütze. Und im Magen. Als er zur Bühne gerufen wird, muss Jimmy erst mal kotzen. Danach sind all die Reime weg, die er sich für diesen Auftritt zurecht gelegt hat. Jimmy steht da, mit dem Mikro in der Hand – und bringt keinen Ton raus. Doch in seinen graublauen Augen, deren Wimpern er nur im Notfall bewegt, ist die unbefriedigte Wut zu lesen. Er gibt sich geschlagen. Aber nur für den Augenblick.
Erbrechen und Sprechgesang – das mag für manche Leute nach mehr als 20 Jahren HipHop kaum noch einen Unterschied machen. Doch Abwinken wäre verfrüht. HipHop hat die Popkultur auf allen Ebenen durchdrungen. Er ist, wie Rock’n’Roll, ein eigenes System und wird in allen Sprachen dekliniert. Und: HipHop ist noch immer eine soziale Tatsache. Vielleicht kommt Curtis Hansons Film für die Musik ein paar Jahre zu spät; für seinen Hauptdarsteller Eminem kommt er punktgenau richtig.
Wenn 2002 irgendjemandes Jahr war in der Popmusik, dann seines (siehe Tsp. vom 31.12.). Der Bengel aus dem Elendsviertel gilt als Wunderkind und Wundmal der amerikanischen Gesellschaft, als jemand, der direkt aus dem Dreck kommt. Eminem erinnert durch seine Popularität daran, dass auch im reichsten Land der Erde Millionen Menschen im Elend leben – ein Lumpenproletariat, in dessen Nähe sich die meisten Medien nur wagen, wenn es um Mord und Verbrechen geht.
Eine Straße in Detroit
Eminem hat ihnen den zitternden Mittelfinger entgegen gestreckt. Sein Ziel war es, „an die Grenzen der Redefreiheit zu gehen“. Das hat er getan. Er hat davon geredet, seine Frau umzubringen, er kannte keine Gnade mit seiner Mutter. Doch mittlerweile ist auch Eminem 30 Jahre alt geworden. Alter und Erfolg scheinen ihn milde zu stimmen. Oder erwachsen zu machen. Er ist jetzt gegen Waffen und Drogen. Er hat – nach seinen homophoben Ausfällen – zusammen mit Elton John gesungen. Umfragen unter Afro-Amerikanern ergeben, dass Eminem derzeit der beliebteste Weiße nach Kennedy und Clinton ist. Noch vor zwei Jahren der vermutlich meistgehasste Mann Amerikas, ist er nun salonfähig geworden. Und Regisseur Curtis Hanson setzt ihm ein frühes Denkmal.
„8 Mile“ ist der Name einer Straße in Detroit. Hier liegt die Wohnwagensiedlung, in der Jimmy, genannt Rabbit (zu deutsch: Kaninchen) lebt. Er teilt dort den knappen Lebensraum mit seiner trinkenden Mutter, der Kim Basinger ein welkendes Gesicht verleiht, sowie seiner kleinen Schwester Lily. Die Geschichte ist so geschickt an Eminems Biografie entlang komponiert, dass sie zwar nicht 1:1 zur Realfigur gelesen werden kann, aber ein solides Fundament zur Festigung seines Mythos’ legt. Hanson hat eine Art HipHop-Version von „Rocky“ daraus gemacht. So wie Boxen einmal ein magischer Weg aus der Armut war, ist es heute Rap.
Auch hier wird gelegentlich zugeschlagen. Aber die Aktion im Ring – auf der Bühne des HipHop-Clubs – beschränkt sich auf verbalen Schlagabtausch. Rabbit trainiert nicht wie Rocky im Schlachthaus, er arbeitet an der Stanze. Und als Sieg genügt ihm schon, einen Rap-Wettbewerb zu gewinnen. 45 Sekunden bleiben den Kandidaten, um sich, begleitet durch einen Beat vom Plattenteller, zu dissen, also sich gegenseitig mit Worten fertig zu machen. Dieses Ritual der Rap-Kultur, das rhetorische Kräftemessen, wird durch die Kamera zu einer Art Gottesdienst – und verhandelt daneben verschiedene Erscheinungen der HipHop-Kultur.
Der stumpfe Muskelmann oder der Macker, der auf Ghetto macht und seine betuchte Herkunft verheimlicht: Für jeden dieser Typen lassen sich Entsprechungen aus der HipHop-Geschichte nennen. Eins eint sie alle: Sie sind nicht weiß. Rabbit muss sich vor allem immer wieder dafür demütigen lassen, dass seine Haut weniger Pigmente enthält als die der anderen Sprechsänger.
„Eine Weile habe ich mir gewünscht, als Schwarzer geboren zu sein, dann wäre mir viel erspart geblieben“, hat Eminem in einem Interview gesagt. Er meinte damit nicht, dass in Wahrheit eine schwarze Seele in seiner weißen Brust wohnt – ein „White Negro“ wie in Boris Vians Jazz-Roman „Ich werde auf eure Gräber spucken“. Er meinte damit, dass eine Stimme aus dem Ghetto weder schwarz noch weiß sein muss. Sondern einfach nur: echt. So wie der reale Eminem Unterstützung durch den schwarzen HipHop-Produzenten Dr. Dré fand, nimmt ihn in „8 Mile“ der Clubbetreiber Future unter die Fittiche. Future wird gespielt von Mekhi Phifer, TV-Zuschauern bekannt in der Rolle des Dr. Gregory Pratt im „Emergency Room“. Dort trägt er allerdings keine Dreadlocks.
Der Rapper als Minimalist
Motown-Sound, Techno, HipHop – aus Detroit, der freudlosen „Motor Town“, kamen viele musikalische Impulse, die allgemein durch die inzwischen weltberühmte Hässlichkeit der Stadt erklärt wurden. Auch Curtis Hanson führt sein Publikum in düstere Straßen, Abbruchhäuser und verqualmte Clubs. Er fängt in schnellen rhythmischen Schnitten die nervöse Energie eines Menschen ein, der nicht weiß wohin; der seine kreiselnden unausgegorenen Gedanken auf Zettel kritzelt, der an sich selbst zweifelt, der um Würde und Respekt ringt.
Nach „L.A. Confidential“ und „Die Wonder Boys“ ist „8 Mile“ ein erstaunlicher Schritt in Hansons Filmografie. Dass ein so ernsthafter Regisseur sich dieser Geschichte annahm, zeigt auch, wie sehr sie der amerikanischen Realität entspricht. Eminem selbst hat an der 8 Mile sogar schon Videoclips gedreht. Aber hier ist er nicht Poseur für seine eigenen Songs. Er gibt ein erstaunliches Debüt als Schauspieler: mimisch eher ein Minimalist, aber von unwiderstehlicher Präsenz. Dieser klare trotzige Blick, mit dem er sein Gegenüber am liebsten durchbohren würde – er sagt: Wo ich herkomme, hat man nichts zu verlieren. Du bist satt, aber ich bin hungrig. Hoffentlich bleibt er noch eine Weile so, bevor er nach Beverly Hills zieht.
In 22 Berliner Kinos, OmU im Babylon, OV im Cinemaxx Potsdamer Platz und CineStar Sony-Center
Ralph Geisenhanslüke
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