Berlinale Forum: „Töchter“: Mut zur Zumutung
Für den FORUM-Film „Töchter“ schöpfte sie aus ihrer Biografie: Ein Treffen mit Kathleen Morgeneyer.
Alle Frauen sind Töchter. Und die Frau, die sich an einem verschneiten Januardienstag im Kreuzberger „Felix Austria“ die Mütze vom Medusenhaupt zieht, weiß, dass auch sie als solche ihre Umgebung auf die Probe gestellt hat. Wie sie mit einer Kamera in den Unterricht stiefelte: Heute machen wir einen Film – und dann filmte sie los. Es war kurz nach der Wende in Chemnitz, und sie schrieb an den Bürgermeister, wie sie sich die Gesellschaft vorstellte. Sie wollte Dorfkommunen gründen, mit ihren Freunden zusammenleben.
Kathleen Morgeneyer, hartes T und langes E, Deutsch, Englisch, Japanisch, Sächsisch, hat im Theater viele luzide Frauenfiguren gespielt. Alle am Rande von etwas: dem Nervenzusammenbruch. Dem Wahnsinn. Dem Tod. Der Erleuchtung. Lulu, Johanna von Orleans, Nina in der „Möwe“. Von schlüsselbeinlastiger Zartheit hat sie dabei stets auch das Zähe von Frauen, die sich nicht schonen. 2006 Düsseldorfer Schauspielhaus, Schauspiel Frankfurt, Nachwuchsschauspielerin 2009, seit 2011 beim Deutschen Theater Berlin. Auf der Berlinale läuft mit „Töchter“ ihr erster längerer Film.
„Ist es okay, wenn wir Sie upgraden?“ – „Wie bitte?“ Der Mann in der Autovermietung schlägt Agnes (Corinna Kirchhoff), die nach Berlin gekommen ist, um ihre vermisste Tochter zu suchen, routiniert einen größeren Wagen vor. Automatik. Und dann geht alles seinen Gang. Agnes irrlichtert durch Berlin, sucht ihre Tochter, bis ihr plötzlich eine junge Frau vor den Wagen läuft, die flucht, unverletzt einsteigt und für den Rest des Films nicht mehr von ihrer Seite weicht. Das ist Ines, alias Morgeneyer, eine junge Frau ohne Bleibe, aber mit künstlerischen Ambitionen. Sie ist etwa so alt, wie Agnes’ Tochter sein könnte.
Im Innenraum des Suv klickt und klackert der Blinker sehr laut, doch keiner weiß, in welche Richtung es jetzt weitergehen soll mit ihnen beiden. Agnes fährt einfach los. Und Ines bleibt einfach da. Der Wagen leistet noch Einparkhilfe, aber ansonsten ist alles aus dem Lot.
Ines legt sich einfach mit in Agnes’ Hotelbett, und in diesem Zimmer entwickeln sich Stellvertreterdialoge, in denen die beiden Fremden einander alles vorwerfen, was sich in dieser Schicksalsbeziehung des Lebens, im Mutter-Tochter-Kosmos, so angehäuft hat.
Es ist demütigend, sagt die Mutter, wenn das eigene Kind wegläuft.
Es hat so wehgetan, nicht verstanden zu werden, sagt Ines. Ihre Mutter habe gedacht, sie sei verrückt.
Heimlich schauen sie einander in die Karten, wenn die andere nicht da ist. Aus den Bruchstücken, die persönliches Gepäck so hergibt, ziehen sie ihre Schlüsse. Die werfen sie sich dann gegenseitig vor. Ihre Zigaretten drücken sie in riesigen Kristallaschenbechern aus.
Ines provoziert. Ist doch okay, sich zu nehmen, was man braucht, oder? Ihr ist langweilig den ganzen Tag im Hotel. Sie zieht Agnes’ Bluse an. „Soll ich etwa nackt rausgehen oder was?“ Sie bestellt sich Frühstück aufs Zimmer und irgendwann, als Agnes die Tür öffnet, ist Ines dort mit einem Mann.
Ines schlägt den Kopf an den Badewannenrand. Agnes haut ihr eine runter. Die Kamera protokolliert die Wechselwirkung von Aggression und Hilflosigkeit, aber auch Sympathie und Intimität.
Die Regisseurin Maria Speth hat sich für Morgeneyer als Obdachlose entschieden, „obwohl es bekanntere Schauspielerinnen gegeben hätte“. Aber Morgeneyer hatte das Leben zum Film. Speth musste nur fragen, und Morgeneyer erzählte ihr in den sechs Wochen Dreh aus ihrem 36-jährigen Leben, und darin ist viel von der Utopie, der Provokationslust, der Gesellschaftskritik und der Kompromisslosigkeit, die auch ihre Figur fordert.
Sie erzählt jetzt erneut, wie sie sich langweilt in der Schule in Chemnitz. Kreativität „reduziert auf Noten“ hält sie nicht aus. Als Eltern und Lehrer nach der Wende eine freie Schule gründen, wechselt sie dorthin. Sie erzählt, wie sie in die Natur flüchtet, immer mal wieder raus muss, alleine unter freiem Himmel schlafen. Da draußen im Elbsandsteingebirge entscheidet sie 1996, dass sie Chemnitz verlassen und nach Berlin ziehen wird. „Das könnte ich heute gar nicht mehr machen – viel zu kalt.“
Sie erzählt, wie sie mit 17 Jahren die Schule schmeißt und mit Freunden in besetzten Häusern in Berlin lebt. Als sie bei der ersten Bewerbung an der Ernst-Busch-Schauspielschule abgelehnt wird, verlegt sie sich auf Pantomine. Sechs Jahre im Schattenmaskenmimenmusiktheater „Anasages“: „Zwei Frauen, ein Mann, ein Pick-up-Truck.“ Auftritte in Thüringen und Sachsen. Reisejahre waren das, die ihr heute unwirklich und düster vorkommen. Hart, unbehaust und als Ausdrucksmittel nur eine sprachlose Kunst. Als sie sich nach sechs Jahren noch einmal bei der Ernst-Busch-Schule bewirbt, wird sie genommen.
Es ist also überhaupt nichts Ungewohntes für Kathleen Morgeneyer, aus existenziellen Fragen persönlich konsequente Schlüsse zu ziehen. Ohne Netz und doppelten Boden. „Das ist jetzt also die Geschichte der Kathleen Morgeneyer“, sagt sie. Sie weiß, dass jede Erzählung eines Lebens gleich merkwürdig gerundet klingt, viel schlüssiger, als das eigene Leben sich anfühlt. Gleich muss sie los, im Deutschen Theater gibt sie in „Jochen Schanotta“ die „Klette“.
Sie nimmt ihr zehn Monate altes Kind, das die ganze Zeit über auf ihrem Schoß saß und dessen Vater sie bei den Dreharbeiten in eben jenem Hotelzimmer näher kennengelernt hat. Es ist eine Tochter. Deike Diening
8.2., 19 Uhr, (Delphi Filmpalast), 9.2., 11 Uhr, (CineStar), 11.2., 18.30 Uhr, (Filmkunst 66), 12.2. 19.30 Uhr, (Cinestar Imax), 16.2., 20 Uhr, (Cubix 9)
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