Kultur: Mut im Dunkeln
Nach dem Streiksommer: Frankreichs Opernhäuser spielen wieder. An der Spitze: „Wozzeck“ in Lyon
War es vielleicht doch nur ein böser Traum? Dass die intermittents, die Teilzeitangestellten der französischen Kulturlandschaft, im Juli und August den kompletten Festivalbetrieb lahm legten, um die Reform ihrer einmalig attraktiven Arbeitslosengeld-Regelung zu verhindern? Nichts ist seit diesem heißen Sommer geklärt worden, unversöhnlich stehen sich Regierung und Gewerkschaften gegenüber – doch die befürchtete zweite Protestwelle zum herbstlichen Saisonstart fiel aus, alle Theater in Paris wie in der Provinz konnten ihre Eröffnungspremieren ungestört herausbringen.
Serge Dorny, dem neuen Intendanten der Opéra de Lyon, hat der sommerliche Aufstand sogar zu einem echten Event verholfen: Stéphane Braunschweig, Frankreichs klügster und begehrtester Opernregisseur, der ab 2005 mit Simon Rattle Wagners „Ring des Nibelungen“ bei den Salzburger Osterfestspielen und in Aix-en-Provence anpacken wird, brachte seine Interpretation von Alban Bergs „Wozzeck“ nun beim Koproduktionspartner in Lyon heraus. Ein Einstieg, wie ihn sich der nicht unumstrittene Dorny kaum besser hätte wünschen können.
In Lyon machten in der jüngeren Vergangenheit vor allem zwei Männer von sich Reden: Kent Nagano, der sich von hier aus in die Spitzenliga der Dirigentenstars katapultierte, und Jean Nouvel. Der Architekt nämlich formte den im Geschmack des 19. Jahrhunderts errichteten Opernbau zu einem avantgardistischen Zaubertheater um. Statt einer protzigen Eingangshalle empfängt den Besucher ein niedriges Foyer, in dem tiefschwarze Nacht herrscht. Über Rolltreppen gleitet man hinauf, passiert eine mit blutrotem Stoff ausgeschlagene Schleuse, bevor man im – wiederum komplett in Schwarz gehaltenen – Saal ankommt. Ein verstörendes, berückendes Ambiente, das aus dem zahlenden Voyeur nolens volens einen emotional beteiligten Zuschauer macht.
Ein Raum, wie geschaffen für Büchners blutiges Drama vom verlorenen Menschen. Für seine Inszenierung braucht Stéphane Braunschweig, der auch als sein eigener Bühnenbilder auftritt, keinerlei zusätzliche Dekorationen. Auf der Szene bleibt es also leer und dunkel, wie Gespenster tauchen die Figuren im Lichtkegel auf, Wozzeck (Dietrich Henschel), der so viele Fragen hat und so wenige Antworten, Marie (Nina Stemme), die Mutter seines unehelichen Kindes, der Doktor, (sentimental sadistisch: Walter Fink), der Hauptmann, der bei Pierre Lefebvre zum grotesken Würstchen im Soldatenrock wird.
Obwohl Braunschweig Büchners „Woyzeck“ bereits zweimal inszeniert hat, gelingt es ihm, in der Opernversion des Stoffes tatsächlich der Musik die Führungsrolle zuzugestehen – und der junge deutsche Dirigent Lothar Koenigs vermag sie mit dem hervorragenden Lyoner Orchester aufs Bewegendste auszufüllen. Klar und frei ist der Klangfluss, nicht eine Sekunde lang hängt der Spannungsbogen durch, in all ihrer subtilen Vielschichtigkeit entfaltet sich Bergs komplexe Tonsprache und wirkt dabei doch immer ganz schlicht, ganz organisch. Dass das französische Orchester dort, wo das fiebrige Espressivo mal zur Ruhe kommt, fast ein wenig nach Debussy klingt, gehört zu den exquisiten Details dieser in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Aufführung.
Da kann die Opéra de Marseille nicht mithalten. Nach zehn Jahren mit überstürzten Intendantenwechseln, in denen es hinter den Kulissen so zuging wie im alltäglichen Straßenchaos von Frankreichs lautester Metropole, kämpft Renée Auphan erst einmal darum, das Publikum wieder zurückzuerobern. Madame la Directrice setzt auf Ultrapopuläres wie Verdis „Trovatore“, um ihr 1924 im lupenreinen Art Deco erbautes 2000-Plätze-Haus zu füllen. Die zweckdienliche szenische Einrichtung durch den Routinier Charles Roubaud würde in Deutschland zwar kaum als Regie durchgehen – doch eines lernt der Besucher doch an diesem Abend: Warum Manrico, der Tenor im krudesten Libretto der Musikgeschichte, eingekerkert wird. Fortgesetztes Brüllen wurde im mittelalterlichen Spanien offensichtlich mit drakonischen Schärfe geahndet. Heutzutage bestraft sich ein Sänger wie Vladimir Galouzine selber: Der junge Russe hat das herrlichste Stimmmaterial, das man sich wünschen kann - kraftvoll, jugendlich-heldisch, mit samtiger Mittellage und freier Höhe - und holzt trotzdem schon im Eröffnungsakt seine Serenade in einem Dauerfortissimo herunter, als läge die sechsspurige Hafenstraße des Vieux Port de Marseille zwischen ihm und seiner Angebeteten.
Kein Wunder, dass er zwei Stunden später an entscheidender Stelle in der berühmten Caballetta "Di quella pira" vokal aufs Allerpeinlichste einknickt. Galouzines malheur schreckt die gesamte Bühnenbelegschaft auf: Plötzlich wird zwischen Leonora (Ines Salazar) und dem Conte di Luna (Robert Hyman) ein Duett unversehens zum Duell – und auch der bis dato im Orchestergraben wenig durchsetzungsfähige Maestro Evelino Pidò kann den Abend so noch zu einem feurigen Abschluss bringen.
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