Filmfest Venedig: Morgen ist das neue Gestern
Patina und Paranoia: Das Filmfestival di Venezia startet mit Mira Nairs rührender Politfabel „The reluctant Fundamentalist“.
Venedigfahrer sind Zeitreisende. Jahrhunderte fühlen sich jene zurückversetzt, die in der Lagunenstadt den Blick eisern auf Fassaden und Wasser heften und dabei die Sichtung der durchziehenden Kreuzfahrttouristenheere sorgsam vermeiden. Gefühlte Jahrzehnte aber reißt einen auch der eigentlich moderne Lido di Venezia in die Vergangenheit – und setzt dabei offenbar auf besonders morbide Verführungskraft. Überholen, ohne einzuholen: Ja, wenn die Strandinsel in ihrem Verfallstempo so weitermacht, dann sieht die Altstadt nebenan bald ziemlich jung aus.
Das beginnt schon am Anleger Santa Maria Elisabetta. Dort grüßt den Ankömmling von hohem Sockel einer jener etwa drei Dutzend Goldenen Löwen, die der legendäre Setdesigner Dante Ferretti einst als Deko für die Mostra di Venezia entwarf. War das vor fünf, vor fünfzig oder fünfhundert Jahren? Der Löwe hat, wohl in zugig-düsteren Depots abgestellt, längst eine matschbraune Farbe angenommen, und auch sein mit Spanplatten verkleideteter hellroter Sockel könnte einen neuen Anstrich vertragen. Andererseits: Geht es in Venedig nicht überall um den Antiquitätenwert, um Patina?
Noch offenkundiger wird der Sinn fürs Historische an jener beim ehemaligen Casino gelegenen Stelle, die die Venezianer nur noch „il buco“ nennen: das Loch. Jahrelang gähnte es als Baugrube für einen schicken Neubau des Palazzo del Cinema, mittlerweile scheint es entschlafen. Einst wegen ominösen Giftmüllverdachts nicht weiter ausgehoben und mittlerweile mit weißen Planen abgedeckt, schlummert die gewaltige Grube der Zukunft entgegen. Morgen aber, wer wüsste das besser als die Venezianer, ist das neue Gestern, und so verkündete Bürgermeister Giorgio Orsoni beherzt: „Hier könnten wir ein Hotel bauen.“ Von Finanzierungsmodellen, Bauträgern gar, war nicht die Rede.
Auch das 1932 zu Mussolini-Zeiten gegründete und nun zum 69. Mal anhebende Filmfestival setzt diesmal auf Zeitreisen, wenngleich konkreterer Art. Der Filmhistoriker Alberto Barbera, der das Festival bravourös von 1999 bis 2001 leitete und von Berlusconi aus dem Amt gejagt wurde, ist – nach den Intermezzi mit Moritz de Hadeln und Marco Müller – zurück im Job. Und eröffnet mit einem Film der in den USA lebenden Inderin Mira Nair, die 2001 mit dem sanges- und tanzwütigen „Monsoon Wedding“ den Goldenen Löwen gewann und Bollywood im internationalen Kunstkino durchsetzte.
Eine Zeitreise, um nicht zu sagen: einen Zeitenriss evoziert auch ihr „The Reluctant Fundamentalist“. Denn zwei Tage nach Mira Nairs Siegeszeremonie in Venedig stürzten die Türme in New York ein – und mit ihnen die Hoffnungen auf ein irgendwie friedlicheres neues Jahrhundert. Die glückliche, über die Kontinente verteilte Großfamilie, die Nair noch in „Monsoon Wedding“ gefeiert hatte, war gesprengt, eine bloße Fiktion für den fiction film. Der islamische Fundamentalismus hatte dem Kapitalismus den Krieg erklärt, und die Globalisierung, wenn sie denn je eine Verheißung gewesen war, schien nur mehr ihre Schattenseiten zu offenbaren.
Genau diese Ernüchterung, die auf Erschütterung folgt, macht Mira Nair nun in ihrem Film zum Thema – und sie tut das auf herzensgut gemeinte und letztlich weltumarmende Weise. Changez (Riz Ahmed), ihr „zögernder“ Fundamentalist, geht den Weg vom Businessmann zu den Mujaheddin in Pakistan – und geht ihn doch nicht ganz. Zu sehr ist er abgestoßen von den „fundamentals“, die sein Chef in der New Yorker Jobkillerunternehmensberatung predigt, und der „fundamentalen“ Rückbesinnung auf den Islam, die die Glaubenskrieger ihm abverlangen.
Der Film stürzt sich, zunächst furios, in ein Kampfszenario. Ein amerikanischer Professor ist im pakistanischen Lahore von Extremisten entführt worden, sein Überleben wird an die Freilassung muslimischer Häftlinge geknüpft, auf den Dächern beziehen CIA-Scharfschützen Position. In einem Teehaus am Campus treffen sich Changez, inzwischen selber Professor in Lahore, und der amerikanische Journalist Bobby (Liev Schreiber), der auf einen unblutigen Ausgang der Entführung hofft. Doch Changez gibt den Aufenthaltsort des Entführten nicht preis, den er offenbar weiß. Stattdessen erzählt Bobby seine Geschichte: Wie er wurde, was er ist. Oder: Wie Bobby sich vorstellt, wer er ist.
Video: Filmfest in Venedig eröffnet
Eine schlichte Rückblendenkonstruktion also gibt den Rahmen, und tatsächlich schlingern die Zeiten mitunter ungelenk hin und her – zwischen der Daueraufregung in Pakistan und der Visualisierung langwieriger Individuationsprozesse. Erst geht es um Changez’ rasanten Aufstieg in Amerika zum jüngsten Teilhaber bei „Underwood Samson“, befördert dadurch, dass er sich mit der Nichte Erica (Kate Hudson) des Firmenchefs (Kiefer Sutherland) zusammentut. Dann macht der 11. September den erfolgreichen Pakistani in Homeland-Security-USA zum Außenseiter: Zwei Zufallsfestnahmen genügen, seine „Liebe zu Amerika“ zu erschüttern. Die Dekonstruktion der Liebschaft (Erica kommt über den Unfalltod ihres Ex nicht hinweg) sowie die Wiederbegegnung mit dem Glauben (Besuch der Hagia Sophia bei einer Dienstreise) und vor allem die moralische Kritik des Vaters (Om Puri) am Beruf des Sohns tun das ihre: Changez schmeißt den Job als Unternehmensberater und geht nach Lahore.
In ihrer so langsam wie vorhersehbar inszenierten Schuldzuweisung scheint Mira Nair recht klar: Es ist die Kombination aus knallhartem Kapitalismus und unverlässlichen westlichen Liebesverhältnissen, die sensible Asiaten in die Arme der Mullahs treibt – die amerikanische Paranoia nach 9/11 gibt nur noch die Fußnote. Erst zum Schluss hin öffnet sich „The Reluctant Fundamentalist“ zu einer nachgerade philosophischen Pointe: Wer einer absoluten Wahrheit abgeschworen hat, lässt sich nicht mehr auf eine andere einschwören. Das humanistische Happy End ist allerdings zu schön, um wahrscheinlich zu sein – wahrscheinlich aber berauscht sich das schwelgerische Temperament der Mira Nair daran ebenso wie an der arg übersichtlichen Konstruktion einer terroristischen Genese.
Rührender, wenn auch selten anrührender Kintopp bleibt der Eröffnungsfilm allemal, und erfüllt damit alle Voraussetzungen, die der Festivalritus verlangt. Immerhin setzt das Thema einen Ton: Religiös-sektiererischer Fundamentalismus kehrt als Motiv in manchen Filmen dieser 69. Mostra wieder, etwa in Ulrich Seidls „Paradies: Glaube“ und in Paul Thomas Andersons „The Master“, der sich an der Biografie des Scientologygründers Ron Hubbard orientiert. Bei den britischen Buchmachern liegt „The Master“ übrigens vorn, weshalb der Film prompt als Favorit gehandelt wird. Schlappe vier Minuten daraus, gezeigt vor Monaten in Cannes, haben den Hype begründet. So kann’s gehen. Jan Schulz-Ojala
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