Orson Welles als Publizist: Mordlust und Todessehnsucht
Das filmende, malende und schreibende Universalgenie Orson Welles hatte von Wesen und Unwesen der Deutschen eine klare Vorstellung. Das "Schreibheft" dokumentiert nun seinen Bericht von einer Reise zwischen Spree und Isar im Jahr 1950.
Was die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg über die Deutschen dachten, war von zweifelhafter Zuneigung geprägt. „Wir kamen, um Deutschland vom Hitlerismus zu befreien; wir bleiben, um es vorm Stalinismus zu bewahren“: So lautete die Formel, auf die es einer brachte, der die Verhältnisse im Jahr 1950 vor Ort inspizierte. Der double bind, den er dabei empfand, bereitete ihm Magenschmerzen. Denn er hatte zwar verstanden, dass sich die Deutschen in den Augen der Politik „von einem Problem zu einer Hoffnung“ gewandelt hatten, er traute dem, was er für ihr Wesen hielt, aber nach wie vor nicht über den Weg: „Wir bereiten die Deutschen darauf vor, zu kämpfen (oder zumindest den Russen zu imponieren). Aber den Kommunismus zu bekämpfen, indem man den Faschismus unterstützt, ist etwas völlig anderes.“
Der hier spricht, ist der Film- und Theaterregisseur, Publizist und Maler Orson Welles. Neun Jahre nach seinem kinematografischen Meisterwerk „Citizen Kane“ kannte ihn hierzulande noch kein Mensch. In einer fünfteiligen Artikelreihe, die mit unterschiedlichem Wortlaut zunächst in Frankreich, dann in Italien und im März 1951 schließlich in der Londoner „Fortnightly Review“ erschien, berichtete er über seine Erlebnisse zwischen Berlin und München – samt Ausflug an den Comer See. Dort begegnete er dem österreichischen Waffenhändler Fritz Mandl, mit ebenso viel Skepsis wie mit Sympathie. „Beide“, stellte er fest, „waren wir schon einmal mit Filmstars verheiratet gewesen“ – Mandl mit Hedy Lamarr, die es nach ihm noch auf sechs Ehen brachte, er selbst als zweiter von fünf Männern mit Rita Hayworth.
Mit über einem halben Jahrhundert Verspätung erreichen die „Thoughts on Germany“ im „Schreibheft“ (Nr. 86, 13 €) übersetzt von Tobias Amslinger nun das deutsche Publikum. Als Skandal machte der Text allerdings schon seinerzeit die Runde. Gerd Schäfer erklärt in seinen Anmerkungen, dass der Frankreichkorrespondent der „FAZ“ damals über die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger berichtete, die Welles der „groben Unverschämtheit“ zieh, als er erlebt haben wollte, wie eine Nachtclubband an ungenanntem Ort nach Beendigung ihres Repertoires mit amerikanischen Hits im Morgengrauen das Horst-Wessel-Lied anstimmt, das Publikum einfällt und ein Gast sogar den Arm zum Hitlergruß reckt. Welles widerrief in „France Dimanche“, bedauerte, ein „allzu eilig Reisender“ gewesen zu sein, behielt die Passage aber bis zur letzten Fassung bei.
Eine krude Mischung aus Anschauung und Fantasterei
Die Reportage, wenn man sie so nennen darf, besteht aus einer kruden Mischung von Anschauung, Vorurteil, Meinung und Fantasterei: übergenau in manchen Szenen, völlig vage in anderen. Sie ist, wie der Roman „Mr. Arkadin“ (Rogner & Bernhard 1996), den Maurice Bessy als Abfallprodukt des gleichnamigen Films für ihn verfasste, sicher keine große literarische Leistung. Aber in der Mischung aus farbigen Details, saftigen Klischees und großmäuligen Sätzen macht sie eine kaum noch erkennbare Zeit mit ätzendem Spott kenntlich.
Welles will das Wesen der Deutschen charakterisieren, nachdem ihnen das Übermenschentum abhanden gekommen ist. „Als Mystiker, Musiker und Militarist hat der Deutsche sich zu einem tief fühlenden Menschen zugerichtet“, heißt es einmal. „Er verfügt über körperlichen Schneid, schöpferische Einbildungskraft und die Neigung, in Tränen auszubrechen. Wir wissen alles über seine Mordlust, seine Todessehnsucht und seine erstaunlichen sentimentalen Kapazitäten, mit denen er das Weihnachtsfest beibehält, und wir sagen es gerade heraus: Wir haben ihn gründlich satt. So satt, wie er sich selbst sattzuhaben scheint.“
Die Frage stellt sich: „Was tun? Wenn der Deutsche sich selbst nicht ausstehen kann, dann stellt er nichts dar in der Welt, und wenn es ihm doch gelingen sollte, sich klarzumachen, dass er jemand ist, wird er dann nicht versuchen, auch uns Übrige davon zu überzeugen – und zwar auf eine Weise, dass wir alle wünschten, er sei nie geboren worden? Antwort: Er tut es, und wir tun es auch.“
Gregor Dotzauer
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