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Andris Nelsons (34) vereint viele Qualitäten seines Mentors Mariss Jansons. Zur Zeit ist er Chef des City of Birmingham Symphony Orchestra - das Simon Rattle leitete, bevor er nach Berlin kam.
© dpa

Berliner Philharmoniker: Monstertänze

Andris Nelsons gastiert bei den Philharmonikern. Er ist einer der Kandidaten für die Nachfolge von Chefdirigent Simon Rattle.

Die philharmonische Welt hat sich verändert, seit Simon Rattle im Januar bekannt gab, seinen bis 2018 reichenden Vertrag nicht weiter zu verlängern. Das Orchester dankt seinem Chef die vorausblickende Fürsorge mit neu genährter Leidenschaft, während für Gastdirigenten die Zeit des Schaulaufens begonnen hat. Unter den erschreckend wenigen Namen, die für diese Position infrage kommen, findet sich immer wieder der von Andris Nelsons.

Der 34 Jahre junge Lette vereint Talente, die schon seinen Mentor Mariss Jansons ganz nach oben geführt haben: nie zufrieden, aber immer gewinnend mit Musikern proben, hartes Arbeitspensum ohne jede Allüren, Fantasie, unbedingte Hingabe. Das fordert seinen Tribut: Im Herbst erlitt Nelsons auf Tournee mit seinem City of Birmingham Symphony Orchestra einen Schwächeanfall. Beim sechsten Auftritt mit den Berliner Philharmonikern wird der Druck für ihn nicht geringer. Das Haus ist blitzschnell dreimal ausverkauft, es wird ins Kino übertragen: Man will es jetzt heraushören, ob Nelsons nach Birmingham abermals ein Rattle-Orchester führen könnte.

Nelsons weiß: Egal, wie gut die Kritiken ausfallen, in der Probe stehst du alleine vor dem Orchester. Im Falle der Philharmoniker darf man es getrost beim Jazzer- Ehrentitel rufen – Monster. Es will gefüttert und zum Tanzen gebracht werden. Kein Dirigent tut dies so körperlich wie Nelsons, der auch ausgebildeter Sänger und Trompeter ist. Die Choreografie, mit der er seine Interpretation von Mozarts 33. Symphonie begleitet, will wirklich jeden Musiker mitnehmen in die letzten Winkel dieses experimentellen Werks. Doch für die angepeilte Agilität flutet der Klang die Philharmonie in allzu prächtigen Strömen.

Wie sehr Nelsons diesmal damit ringt, sich die gewohnte Freiheit am Pult zurückzuerobern, verrät Wagners Tannhäuser-Ouvertüre: Ausgerechnet diesen grausam zugespitzten Fleisch-Geist-Konflikt will er nicht loslassen, nach scharfem Herausarbeiten die Klangpartien sich nicht austoben lassen. Für Wagners Größe braucht es keinen Beleg, für seine Menschlichkeit immer. Nelsons vergibt hier eine Chance. Das ist untypisch für diesen instinktsicheren Dirigenten – und typisch für Bewerbungssituationen. Mit Schostakowitschs Sechster, bei den Philharmonikern zuletzt von Mariss Jansons dirigiert, kann Nelsons sein eminentes musikdramatisches Talent deutlicher zeigen und die Philharmoniker zu dunklem Glanz führen. Dabei hätte man sich noch ausgehärtetere Ränder gewünscht. Vor allem aber weniger Stresssymptome für einen Kandidaten, dem die Welt hörbar offensteht.

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