Joseph Roth in Berlin: Mokka in den Adern
Feuilletonist der Zwischenkriegszeit: Ein Band versammelt Joseph Roths brillante Glossen und Reportagen. Berlin kommt darin gar nicht gut weg. Roth lebte zwar in der Reichshauptstadt, sehnte sich aber nach Prag und Paris.
Wer heute, beinahe 100 Jahre danach, etwas über die Schrecken des Ersten Weltkriegs erfahren will, der kann die Romane von Erich Maria Remarque („Im Westen nichts Neues“), Ludwig Renn („Krieg“) oder Edlef Köppen („Heeresbericht“) lesen. Manchmal reichen aber auch schon 50, 60 Zeilen, um zu erfahren, was die Materialschlachten bei Verdun, in Galizien oder an der Somme aus Menschen gemacht hat: Wesen, die kaum mehr etwas Menschliches an sich hatten.
Im September 1919 entdeckt Joseph Roth an der Kärtnerstraße in Wien einen seltsamen Zeitungsverkäufer. Der Kriegsinvalide mit gebrochenem Rückgrat, „ein vom Kriege zum rechteckigen Winkel konstruierter Mensch“, hockt auf dem Trottoir, auf seinem Rücken ein dressiertes Hündchen, darüber wachend, dass keine Zeitung geklaut wird. Eine Hybriderscheinung aus Mensch und Tier, die den Feuilletonisten an „jene große Zeit“ erinnert, „da Menschen wie Hunde dressiert und in einer sympathischen Begriffskombination als ,Schweinehunde‘ von jenen benannt wurden, die selbst Bluthunde waren“.
Das Tier thront auf dem Menschen, ein apokalyptisches Bild. Roth, der zunächst ausgemustert worden war und dann ab 1917 militärischen „Pressedienst“ bei Lemberg geleistet hatte, beendet seinen Text mit einem kulturpessimistischen Stoßseufzer: „Wir haben es herrlich weit gebracht durch diesen Krieg, in dem die Kavallerie abgeschafft wurde, damit Hunde auf Menschen reiten können!“
Der Journalist Joseph Roth (1894– 1939) hat ein Werk hinterlassen, das – darin sind sich die Gelehrten inzwischen einig – dem Werk des Romanciers Roth an Bedeutung nicht nachsteht. Das Wort „Vielschreiber“, eigentlich ein Schmähbegriff, muss für ihn als literarisches Adelsprädikat gelten, denn in einer ereignisreichen, fiebrig nervösen Zwischenkriegszeit hat kaum ein anderer so viel geschrieben wie dieser in Galizien geborene, damals vornehmlich zwischen Berlin und Wien pendelnde Weltbürger – und so gut. Heute denkt man beim Journalisten Roth vor allem an die glanzvolle „Weltbühne“ und die „Frankfurter Zeitung“, bei der er zum bestbezahlten Schreiber der Weimarer Republik mit einem angeblichen Zeilenhonorar von einer Reichsmark aufstieg und für die er 1925 als Korrespondent nach Paris ging. Doch diese Arbeit verlor er bald nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten. Für kein anderes Blatt hat Roth so lange geschrieben wie fürs „Prager Tagblatt“ – von 1917 bis 1937. „Heimweh nach Prag“ heißt der Band, der erstmals alle seine dort erschienenen Feuilletons, Glossen und Reportagen versammelt – 174 Stück.
Dieses Heimweh ist eher eine Fluchtfantasie gewesen, denn in Prag, das bis zum Zweiten Weltkrieg ein großes deutschsprachiges Bürgertum besaß, hat Roth nie gelebt. Aber Ende 1924 schreibt er: „Wenn ich keine Sehnsucht nach Paris hätte, so hätte ich Heimweh nach Prag.“ Da lebt er seit fünf Jahren in Berlin, träumt aber lieber von den „abstrakten Kosmopoliten“ in Prag und ist froh, ein tschechoslowakisches Jahresvisum zu besitzen. Seine Berliner Existenz kommt ihm vor wie das Ausharren in einem Bahnhofswartesaal, wo der bekennende Heimatlose ewig auf seinen Zug zu warten hat und von Militärmusikern, Polizisten, Schaffnern, „Ariern“ und – Höhepunkt der surrealen Höllenfahrt – Offizierswitwen drangsaliert wird, die „ein Hakenkreuz am Adamsapfel“ tragen. Es ist der auftrumpfende Chauvinismus, der ihn in der Reichshauptstadt abstößt: „Ich mache nur noch Salutierübungen.“
Überhaupt erweist sich Roth vor allem in den frühen Stücken als aufmerksamer politischer Diagnostiker. Wenn 1921 in Berlin sogar die Totengräber wegen mangelnder Entlohnung in Streik treten, hört er für die Wirtschaftsordnung der Weimarer Republik bereits die Sterbeglocke läuten. Das Inflationselend fasst er unter die paradoxe Überschrift „Hungernde Billionäre“. Und vor Hitler und seinen „national-sozialistischen Garden“ warnt er schon kurz nach dessen gescheitertem Münchner Putsch im November 1923, in einem Text über die antirepublikanischen völkischen Schattenarmeen.
Beklemmend klingt die „neueste Nationalhymne“, die Roth Ende 1923 in einem sächsischen Gasthaus entgegenschallt, geschmettert von gut genährten Herren mit „an Schinken erinnernden Nackenwülsten“ unter einer Hakenkreuzfahne: „Nieder, nieder, nieder mit der Judenrepublik!“ Keiner der Gäste protestiert. Kommendes Unheil nimmt die Reportage über die 1800 Auswanderer vorweg, größtenteils osteuropäische Juden, die sich im Hamburger Hafen auf der Pittsburgh nach Amerika einschiffen, „Europa entronnen, dem Festland der Pogrome“.
„So frisch Roths Texte häufig anmuten: Er beschreibt eine vergangene Welt“, konstatiert Herausgeber Helmuth Nürnberger, der den Band mit akribischen Anmerkungen und einem 60-seitigen Nachwort versehen hat. Roth hat den Untergang kommen sehen, in den späteren Beiträgen wendet sich der „unmoderne Humanist“ – vielleicht schon resigniert – von der Politik ab, schildert Reisen durch Polen, Albanien und die Sowjetunion oder scherzt über die Begegnung mit einer schönen, blasierten Dame im Zug. Er wird zum Nostalgiker.
Spätestens Hitlers Machtantritt 1933 macht ihn zum glühenden Anhänger der k. u. k. Herrlichkeit des 1918 untergegangenen Habsburgerreichs. Roth brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig Republikaner, Anhänger der Oktoberrevolution und Monarchist zu sein. Seine innere Zerrissenheit spiegelt sich in einer Elegie, in der er sich an einen Auftritt des greisen Kaisers Franz Joseph im Park von Schönbrunn erinnert und bekennt, dass sein Sinn für „religiöse Manifestation“ ausgerechnet bei Paraden auf dem Roten Platz in Moskau befriedigt werde.
In Berlin werden gerne die zwanziger Jahre beschworen, gerade ist ein neues Romanisches Café eröffnet worden. Aber die zwanziger Jahre, das zeigt Joseph Roth, waren nicht golden, und seine Welt lässt sich nicht rekonstruieren. Im Romanischen Café, schreibt Roth 1921, saßen Literaten, die „Revolutionäre im Traum“ waren, „Mokka in den Adern“ hatten und auf Menschen mit festem Einkommen herabsahen. Die Rechnung für ihren Mokka blieben sie meistens schuldig.
Joseph Roth: Heimweh nach Prag. Feuilletons, Glossen, Reportagen für das „Prager Tagblatt“. Hg. v. Helmuth Nürnberger, Wallstein Verlag, Göttingen 2012, 640 S., 39,90 €
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