Science-Fiction-Comic: Moebius: Galaktische Verschwörungen
Mit Mœbius starb kürzlich einer der großen Pioniere des Science-Fiction-Comics. Die Wiederveröffentlichung seines mit Alejandro Jodorowsky geschaffenen Opus Magnum „Der Incal“ sowie die Groteske „Lust & Glaube“ laden dazu ein, sein gesellschaftskritisches Werk neu zu entdecken.
Ein wehrloses Opfer, eine jubelnde Meute und ein Wurf von der Brücke – und schon stürzt der Leser mit dem abgehalfterten Privatdetektiv John Difool in eine düstere Zukunftswelt. Er fällt mit ihm in die Abgründe einer futuristischen Stadt, vorbei an schießwütigen und schaulustigen Kreaturen, die dem vermeintlichen Selbstmörder auf seinem Weg in die Tiefe noch einen mitgeben wollen. Fünf Bilder brauchen der Zeichner Mœbius (alias Jean Giraud) und der Autor Alejandro Jodorowsky, um die Leser ihrer sechsbändigen John-Difool-Reihe – die von 1981 bis 1988 erschienen ist und jetzt nach und nach unter dem Titel „Der Incal“ beim Splitter-Verlag in neuer Auflage erscheint – in der dystopische Wirklichkeit ihres Titelhelden auf dem Planeten Terra 21 hart aufschlagen zu lassen.
In dieser Wirklichkeit werden die den Planeten bevölkernden Wesen mit sanften Drogen und künstlichen Freudenmädchen namens „Homöo-Geishas“ still gestellt, während sie permanenter Überwachung und physischer Gewalt ausgesetzt sind. Und im Untergrund tobt der Krieg aller gegen alle.
Entstanden aus einem gescheiterten Filmprojekt
Zwischen die Fronten dieses Krieges, der sich von einem Aufstand über einen Bürger- und Weltkrieg hin zu einem intergalaktischen Krieg der Sterne auswächst, gerät Difool. An der Spitze von Terra 21 regieren die Techno-Jünger, ein Heer skrupelloser Gewalttäter, mit „seiner absoluten Orphidität“ an der Spitze; einem Präsidenten, der sich mittels Klonung immer wieder verjüngen lässt. Er ist auf der Jagd nach dem „Incal des Lichts“, weil dessen kosmische Energie ihm, der bereits im Besitz des „schwarzen Incals“ ist, die vollkommene Macht verleihen soll. Difool ist durch einen Zufall in den Besitz dieses magischen, pyramidenartigen Gegenstands gekommen und wird zum Gejagten, der, wie es sich für den Helden eines guten Actioncomics gehört, immer wieder knapp seinen Verfolgern entkommen kann.
Doch die Incal-Reihe ist mehr als ein Actioncomic. Entstanden aus den Plänen des gescheiterten Filmprojekts „Dune“, ist dieser Zyklus wie eine Büchse der Pandora mit positivem Auswurf. Alle Möglichkeiten von Film und Literatur nutzend, ist diese Comic-Reihe Krimi, Thriller, Science-Fiction-Roman, Horrorfilm, Gesellschaftsepos, Parodie, Märchen, Traum-, Abenteuer-, Liebes- und Schelmenroman zugleich. Alles ist hier in Allem, jedes Element gehört in einen größeren Zusammenhang und regiert zugleich ein eigenes Universum. Die Erzählstruktur ist mal chronologisch und mal geografisch ausgerichtet, was nicht heißt, dass das Raum-Zeit-Kontinuum hier eine besonders große Rolle spielen würde. So verschwindet die Sechserbande, die sich im Laufe der Geschichte um den Titelhelden John Difool gruppiert, im dritten Band in den Tiefen der Metaphysik und Esoterik – und entzieht sich damit auch dem Zugriff ihrer Verfolger.
Verzweigungen fast ins Unendliche
Mœbius und Jodorowsky bedienten sich für ihre Science-Fiction-Reihe mehrerer Handlungsstränge und Erzählebenen, um die einzelnen Episoden aufeinander und über sich hinaus verweisen zu lassen. Dabei befindet sich alles in einem permanenten Prozess des Entstehens und Vergehens. Ist gerade eine Welt betreten, wird sie im nächsten Moment schon wieder verlassen. Meint man endlich einen erzählerischen Faden gefunden zu haben, wird eine neue Fabel eröffnet. Der Kreis hat 360 Grad und ist in sich geschlossen. Das gleiche gilt für das sogenannte Möbius-Band (beschrieben von dem Mathematiker August Ferdinand Möbius), eine zweidimensionale Struktur, bei der man nicht zwischen oben und unten sowie innen und außen unterscheiden kann – und die Mœbius zu seinem Künstlernamen inspirierte. Dies gilt auch für die faszinierende Incal-Galaxie: „Diese Geschichte verzweigt sich immer mehr. Fast ins Unendliche“, lässt Jodorowsky John Difool im dritten Teil sagen, als würde dieser seine ausufernde und mäandernde Erzählweise kommentieren.
Vieles an der Welt des John Difool erinnert an die "Star Wars"-Reihe von George Lucas, nicht zuletzt auch das Figurentheater, welches Mœbius und Jodorowsky aufs Papier gezaubert haben. Menschen und menschenähnliche Gestalten, Mischwesen von Mensch und Tier, Androiden, Roboter und vollautomatische Maschinen sowie etliche monsterhafte Kreaturen, die Mœbius mit seiner kongenialen Fantasie geschaffen hat, bilden das schrecklich faszinierende Gruselkabinett dieser Negativ-Utopie, an deren Ende die Zerstörung des Universums und dessen Neuaufbau steht.
Wider den totalitären Materialismus
Der sechsbändige John-Difool-Zyklus, von dem bislang drei Bände neu aufgelegt wurden, ist zugleich ein Meta-Roman in Comicform, der mit dem Medium und seinem Inhalt spielt. So wie der Incal aus zwei Teilen besteht, die zusammengeführt werden müssen – was im dritten Teil der Reihe geschieht – so gibt es auch innerhalb des Zyklus zu jedem Band den Gegenband: „Der Incal des Lichts“ (Band 2) ist die Antwort auf „Der schwarze Incal“ (Band 1), „In höchsten Höhen“ (Band 4) geht „In tiefsten Tiefen“ (Band 3) voran und „In weiter Ferne“ (Band 7) folgt „In nächster Nähe“ (Band 6).
In der Erzählung findet sich dieses Prinzip von Stück und Gegenstück an den verschiedensten Stellen wieder, besonders deutlich tritt dies aber bei einzelnen Figuren hervor, die als zweigeschlechtliche Kreaturen oder Zwitterwesen beides in sich vereinen und damit das Vollkommene und Ideale verkörpern. Ebenso meisterhaft wie genüsslich haben Mœbius und Jodorowsky selbst ihrer Hauptperson, John Difool, dieses Prinzip übergestülpt, indem sie ihn gleichermaßen als Held und Anti-Held in Szene gesetzt haben. Die Idee hinter dieser Vereinigung der Gegensätze liegt im Ausgleich, der mit ihrer Vereinigung einhergeht. Das Schlechte kann nicht durchdringen, wenn ihm das Gute innewohnt. Dieser Ausgleich ist in den Gesellschaften und Völkern im Incal-Universum nicht mehr vorhanden. Sie versinken in einem Strudel der Gewalt. Der Incal soll diesen Ausgleich auf einer metaphysisch-geistigen Ebene wieder schaffen und so den totalitären Materialismus besiegen.
Lust und Glaube, Verführung und Verdummung
Wer „Der Incal“ nun als esoterisches Manifest zweier Comicpioniere liest, nimmt die Geschichte zu ernst und hat vergessen, dass sie alles in allem ist; eben auch Märchen und Parodie. Wie kritisch Mœbius und Jodorowsky
esoterischer Irrationalität und Glaubenssystemen aller Art gegenüberstehen, beweist die kürzlich im Verlag Schreiber&Leser erschienene Gesamtausgabe ihres Gemeinschaftswerks „Lust & Glaube“, einer Nach-68er-Universitäts-Groteske. In deren Zentrum steht Alain Mangel, ein Philosophie-Professor an der Pariser Elite-Universität Sorbonne, der den Gelüsten seiner Jugend erliegt. Durch die Mechanismen von Zuckerbrot und Peitsche, die sich hier in sexueller Freiheit und Gruppenzwang konkretisieren, gerät er in die Fänge einer sektiererischen Gemeinschaft, die von ihm und seinem Leben soweit Besitz ergreift. Wie nah Lust und Glaube, Verführung und Verdummung sowie Selbstaufgabe und Entmündigung beieinander liegen, zeigt diese aufklärerische Trilogie in meisterhafter Manier.
Bei aller Genialität, die auch dieses Werk prägt, ist das Opus Magnum von Mœbius (Nicht das von Jean Giraud! Da ist zweifellos die Western-Comicserie „Blueberry“) dennoch ohne Frage die John-Difool-Reihe. Zu Unrecht ist sie in Vergessenheit geraten. Nun kann man die bildgewaltige und farbenfrohe Science-Fiction-Oper, die die Geschichte der Comics geprägt hat, endlich wieder in der klassischen Kolorierung und mit einigem Zusatzmaterial wieder entdecken.
Jodorowsky, Mœbius: "Der Incal", bislang drei von sechs Bänden, Splitter-Verlag, je 64 Seiten, je 15,80 Euro. Die Alben 4 und 5 sollen noch in diesem Jahr erscheinen, 2013 der sechste Band. Jodorowsky, Mœbius: "Lust & Glaube". Verlag Schreiber&Leser 2011. 192 S. 29,80 Euro.
Thomas Hummitzsch
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