Crowdsourcing: Mitmachen kann jeder: Wie Bibliotheken das Web 2.0 nutzen
Geschichtsschreibung im Internet: Bibliotheken und Archive erschließen sich durch Crowdsourcing neue Quellen. Bürger können mit eingescannten Dachbodenfunden zu neuen Erkenntnissen verhelfen.
Sie halten einander an den Händen und schauen ernst in die Kamera. Ein namenloses junges Brautpaar, aufgenommen vor 90 Jahren in Wien. Dass ihr Hochzeitsbild mittlerweile im Internet kursiert, ist kein Zufall. Das Center for Jewish History aus New York hat es auf der Fotoplattform Flickr veröffentlicht. Der Grund: Man erhofft sich Hinweise aus der Bevölkerung. „Wenn Sie irgendwelche Informationen über die Personen auf diesem Bild haben, hinterlassen Sie bitte einen Kommentar.“
Das Crowdsourcing, also die Einbeziehung größerer Menschenmengen, ist schon lange eine beliebte Strategie im Web 2.0. Nun hat der Trend auch Archive und Museen erreicht. Die Library of Congress mit Sitz in Washington hat vor knapp vier Jahren den Anfang gemacht, mittlerweile sind weltweit 56 Institutionen an dem Projekt „Flickr Commons“ beteiligt. Tausende historischer Abbildungen haben die Archive hochgeladen, um sie von der Weltöffentlichkeit näher identifizieren zu lassen. Das vorläufige Fazit kann sich sehen lassen kann: mehrere Millionen Klicks und über 30 000 Kommentare. Nur ein Nachfahre des Wiener Brautpaars hat sich noch nicht gemeldet.
Die Erfolge von „Flickr Commons“ haben auch andere Forschungseinrichtungen beflügelt: Die digitale Schwarmintelligenz ist derzeit der Trumpf im Ärmel vieler Historiker. Denn was ein einzelner Archivar oder eine Bibliothek mit begrenztem Budget niemals leisten kann, das kann vielleicht die geschichtsbegeisterte Masse. Sie assistiert bei der Materialsichtung, sie gibt Hinweise zu Quellen, manchmal ersetzt sie sogar die studentischen Hilfskräfte. In Finnland half die Bevölkerung kürzlich der dortigen Nationalbibliothek bei der Fehlerkorrektur des eingescannten Dokumentenbestands. In England bittet das National Maritim Museum unter www.oldweather.org um Mithilfe bei der Übertragung von Wetterdaten aus handschriftlichen Logbüchern in eine Datenbank. Eine stupide Arbeit? Über 23 000 Freiwillige sehen das offenbar anders: Gemeinsam haben sie schon knapp 800 000 Seiten erfasst.
Das Potenzial des historischen Crowdsourcings ist noch lange nicht ausgeschöpft. Internet und Digitalisierung ermöglichen auch den Aufbau ganz neuer Sammlungen. Eine der größten Archiv-Neugründungen heißt „Europeana 1914-1918“ (www.europeana1914-1918.eu); vor einigen Monaten wurde das Projekt von der europäischen Digitalbibliothek Europeana, der University of Oxford und der Deutschen Nationalbibliothek initiiert. Bis 2014 sollen europaweit Briefe, Fotoalben, Bücher und Dokumente rund um den Ersten Weltkrieg gesammelt und zugänglich gemacht werden. „Mitmachen kann jeder“, sagt Projektleiter Frank Drauschke. Einfach Keller und Dachböden durchstöbern und alles einscannen oder abfotografieren, was sich dort an familiären Erinnerungsstücken aus den Kriegsjahren findet.
Der Andrang ist riesig: 27 000 Bilddateien umfasst das brandneue Archiv mittlerweile. Darunter findet sich alles, von Entlausungsbescheinigungen bis zu Postkarten, Ausweisen, Fotografien, Feldstechern, Kinderbüchern. Damit das heterogene Material für die Forschung zukünftig nutzbar wird, muss es allerdings zunächst aufbereitet und verschlagwortet werden. „So entsteht ein ganz neuer europäischer Quellenkorpus, der eine vergleichende Alltagsgeschichte des Ersten Weltkriegs ermöglichen soll“, sagt Drauschke. Wer dann was mithilfe des neuen Materials erforschen wird, ist noch offen. Die Europeana plant für 2012 jedenfalls einen „Hack Day“, da sollen die Pforten und Quellcodes für kreative Programmierer geöffnet werden, die dann maßgeschneiderte Apps zur Erschließung der Weltkriegsdokumente entwerfen.
Je komplexer und intimer die Erinnerungen sind, desto schwerer ist es, Gesprächspartner zu finden
Eine App für das „Gedächtnis der Nation“ (www.gedaechtnis-der-nation.de), einem anderen groß angelegten Crowdsourcing-Archiv, gibt es bislang noch nicht. Dafür aber einen eigenen YouTube-Chanel, der ebenfalls offen ist für alle interessierten Teilnehmer. Anders als bei „Europeana 1914-1918“, geht es in dem Projekt, das unter anderem vom ZDF und von Google unterstützt wird, nicht um stumme Requisiten, sondern um die Aussagen von Zeitzeugen. „Wie haben Sie persönlich die jüngere deutsche Geschichte erlebt: das Kriegsende, den Mauerbau, die Teilung, die Wiedervereinigung?“ – das seien Kernfragen des Projekts, erklärt Geschäftsführer Jörg von Bilavsky. Mit einem mobilen Fernsehstudio sind er und sein Team in den vergangenen Monaten durch Deutschland gefahren und haben Menschen jeden Alters zum Gespräch gebeten. 230 Interviews zur deutsch-deutschen Geschichte sind zusammengekommen, in den nächsten Jahren sollen es noch deutlich mehr werden.
In voller Länge werden die persönlichen Berichte allerdings nicht ins Netz gestellt. Das Material wird in kurze O-Ton-Häppchen geschnitten und thematisch geordnet – entweder entlang eines übersichtlichen Zeitstrahls oder nach einschneidenden historischen Ereignissen. Eine unzulässige Dekontextualisierung sei das nicht, meint von Bilavsky. „Bestenfalls ergibt sich aus den Erinnerungen der Zeitzeugen ein multiperspektivisches Geschichtsbild.“ Abgesehen davon richtet sich das Portal ohnehin weniger an Forschung und Wissenschaft, eher an eine breite interessierte Öffentlichkeit. 2012 wird das mobile Aufnahmestudio wieder unterwegs sein, diesmal zum Thema Migration.
Die Akquise von Gesprächspartnern könnte sich dabei als schwieriger erweisen. Denn je komplexer die gesellschaftlichen Zusammenhänge und je intimer oder schmerzhafter die individuellen Erinnerungen, desto eher stößt das beiläufige historische Crowdsourcing an seine methodischen Grenzen. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft! (EVZ), die vor zehn Jahren mit den Entschädigungszahlungen an ehemalige NS-Zwangsarbeiter betraut wurde, hat langjährige Erfahrung mit sensiblen Gesprächssituationen. Für das Portal www.zwangsarbeit-archiv.de wurden vor fünf Jahren Interviews mit 600 Überlebenden aus 26 Ländern geführt. Meistens fanden die Gespräche allerdings in vertrauter Atmosphäre zu Hause am Küchentisch statt. Und natürlich in der jeweiligen Muttersprache. „Vielen Beteiligten war außerdem wichtig, dass ihre traumatischen Lebensgeschichten für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit genutzt werden können“, sagt Stiftungs-Mitarbeiterin Uta Gerlant. Im Internet finden sich deshalb nicht nur die Zeitzeugenfilme, sondern auch ausführliches didaktisches Begleitmaterial.
Beim ihrem aktuellen Netz-Projekt hat sich die Stiftung für eine noch radikalere Form des Heranzoomens entschieden. Auf der vor wenigen Wochen gestarteten Webseite www.mit-stempel-und-unterschrift.de sind nur 30 Schriftstücke dokumentiert. „Wir haben bewusst sehr wenige Fälle ausgewählt – die aber im Detail viel und auch widersprüchliches über die NS-Zwangsarbeit und ihre mühsame Aufarbeitungsgeschichte nach 1945 erkennen lassen“, erklärt Projektleiter Axel Doßmann von der Uni Jena. Zu sehen sind ein Entlassungsschein aus Auschwitz, das Arbeitszeugnis eines Pferdeknechts, eine Geburtsurkunde aus dem KZ Bergen-Belsen. Auf den ersten Blick verraten die verblichenen Papiere wenig über ihre ehemaligen Besitzer. Erst durch die Erklärungen, die die Historiker angefügt haben, werden daraus wieder Namen, Gesichter und – kollektive Schicksale.
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