Neustart für Hollywood: Mit „Tenet“ aus der Corona-Starre
Christopher Nolans Science-Fiction-Thriller ist filmische Quantenphysik. Und eine eindrucksvolle Demonstration, warum das Kino unverzichtbar ist.
Dem Unabwendbaren hilflos ins Auge zu blicken, gehört zu den Urängsten der Kinoerfahrungen. Bei der ersten Aufführung von Lumières „Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ 1896 in einem Pariser Café soll das Publikum panisch ins Freie gestürmt sein, als die Lok von der Leinwand zu rollen schien.
Die Geschichte war wohl nur ein Werbegag des cleveren Geschäftsmanns Lumière, aber die Szene beschreibt sehr treffend die Angstlust, mit der das Kino früh gespielt hat – und von der auch Hitchcock im Interview mit Truffaut sprach, als er das Prinzip der „Suspense“ am Bild einer tickenden Zeitbombe erklärte.
Dem Schicksal in dem Wissen entgegenzublicken, dass der Moment, der sich gerade vor den eigenen Augen abspielt, tatsächlich bereits in der Vergangenheit liegt, ist hingegen ein Fall für die Quantenphysik. Oder, der kleinste gemeinsame Nenner von Quantenphysik und Kino, für Christopher Nolan.
„Tenet“ ist Nolans nächstes Science- Fiction-Wunderwerk, nicht nur in den Maßstäben des Blockbusterkinos, sondern möglicherweise auch für die Zukunft der globalen Kinoindustrie, wie wir sie vor Corona kannten.
Eine Maschine, die die Zeit umkehrt
In der Schlüsselszene blickt John David Washington voll Entsetzen auf das Einschussloch im Sicherheitsglas, das ihn von seinem Widersacher und dessen Geisel trennt. In diesem Moment hat er verstanden, dass das, was er gerade mit eigenen Augen sieht, bereits geschehen ist. Auf der anderen Seite der Scheibe existiert das Loch, bevor die Kugel abgefeuert wird. Der hilflose Anblick überfordert selbst den abgebrühtesten CIA-Agenten.
Dieser Showdown, etwa zur Hälfte der 150 Minuten, ist in doppelter Hinsicht Dreh- und Angelpunkt von „Tenet“. Die Szene legt die komplexe Konstruktion von Nolans Drehbuch offen und erklärt gleichzeitig den technischen Gimmick im Zentrum des Films: eine Maschine, die den Lauf der Zeit invertiert.
Ihr Prinzip ähnelt dem eines Drehkreuzes. Beim Durchschreiten einer Schleuse wird das physikalische Weg-Zeit-Gesetz verkehrt: Auf der anderen Seite läuft die Zeit rückwärts ab, von einer bereits abgeschlossenen Zukunft in die Vergangenheit. So, als hätte jemand die Rückspultaste gedrückt.
Christopher Nolan versucht mit „Tenet“ etwas ganz Ähnliches. Er erzählt seine Geschichte, vereinfacht erklärt (die Langfassung entbehrt jeglicher dramaturgischen Logik), erst chronologisch und ab der Hälfte wieder zurück. Das Mittelstück von „Tenet“ spielt in dem erwähnten Drehkreuz, verborgen in einem nicht-territorialen Hochsicherheitstrakt auf dem Flughafen von Oslo, durch das Nolan gewissermaßen seinen Film jagt.
Hollywood setzt auf Nolan für den Neustart
Die fantastische Erzählstruktur von „Tenet“ gestaltet sich sogar noch etwas komplizierter, weil sich die parallelen, gegeneinander laufenden Zeitachsen irgendwann zu verschränken beginnen. Dieses Phänomen kulminiert in der zentralen Actionsequenz des Films, einer irrwitzigen Verfolgungsjagd mit Sattelschleppern, einem Feuerwehrzug und mehreren Autos in Vor- beziehungsweise Rückwärtsbewegung.
Die Gesetze der Zeit sind in „Tenet“ aufgehoben. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitachsen, erklärt am Anfang die CIA-Technikerin Laura (Clémence Poésy) dem namenlosen, von Washington gespielten Agenten, hätte katastrophalere Folgen als ein Atomkrieg.
Die ersten Trailer von „Tenet“ ließen schon erahnen, warum Hollywood so großes Vertrauen in Christopher Nolan setzt, dem letzten Autorenfilmer, der Originalstoffe noch in Blockbuster verwandeln kann. Bond- und Marvel-Filme funktionieren heute wie Marken, nur wenige Regisseure verstehen es wie Nolan, immer wieder die Möglichkeiten des Kinos aufzuzeigen. Wenn es also jemanden in Hollywood gibt, der uns daran erinnern kann, was mit der Coronakrise für das Kino auf dem Spiel steht, dann Nolan, der die Grenzen von Drama und Spektakel immer weiter verschiebt.
Das filmische Konzept Zeit ist bei Nolan relativ
Warner hat „Tenet“, anders als Disney und Universal mit ihren Blockbustern, nicht auf 2021 verschoben. Dafür nimmt das Studio sogar in Kauf, seinen wichtigsten Film international gestaffelt zu veröffentlichen (in den USA läuft er frühestens im September an). Der Start von „Tenet“, mitten in der globalen Corona-Pandemie, muss auch als Investition in die Zukunftsaktien des Kinos gesehen werden.
„Tenet“ ist im Grunde Nolans Version eines James-Bond-Films, nur dass die Bedrohung diesmal aus der Zukunft kommt. Nolan begreift das Kino schon lange als eine Art Zeitmaschine. In „Memento“ vertraute er auf die Mittel der Montage, die Amnesie des Protagonisten war ein dramaturgischer Behelf, um die Chronologie von hinten aufzurollen.
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Die temporalen Architekturen von „Inception“, „Interstellar“ und zuletzt „Dunkirk“ waren schon deutlich verschachtelter. Im Kriegsfilm „Dunkirk“ verschmelzen drei Zeitebenen von unterschiedlichen Ausgangspunkten (eine Woche, einen Tag, eine Stunde vor der Schlacht) zu einer linearen Handlung. Rückblickend wirkt aber selbst dieses Experiment nur wie ein Testlauf für „Tenet“.
Ein virtuoser Architekt von Welten
Nolan ist ein virtuoser Ingenieur, seine Filme sehen auf den ersten Blick aber komplizierter aus, als sie letztlich sind. Dass er auch ein visionärer Weltenbauer ist, macht die Illusion so perfekt. Das Konzept Zeitmaschine muss für einen Geschichtenerzähler wie ihn natürlich banal klingen.
Nolans filmisches Konzept von Zeit war immer schon relativ. Auch Washingtons Agent wischt die Frage des undurchsichtigen Neil (Robert Pattinson), der ihm für seine Mission abgestellt wird, mit einer abfälligen Geste beiseite. Zeitreisen sind Unfug aus der Fantasyliteratur, in „Tenet“ ist Zeit selbst eine Waffe. Die Zukunft greift die Vergangenheit an.
Mann im Hintergrund ist ein russischer Oligarch, der einst wie Phoenix aus der Asche eines nuklearen Ground Zero aufstieg. Andrei Sator (Kenneth Branagh) musste in den Ruinen einer militärischen Trabantenstadt im tiefsten Sibirien Plutoniumkapseln bergen. Ein Trümmerkind, das mit den Altlasten der zerfallenden Sowjetunion ein Vermögen gemacht hat und jetzt mit seiner Luxusjacht vor der Küste Pompejis schippert.
Die Figur des Oligarchen ist das Update des Bond-Bösewichts, too big to fail. Seine Macht bleibt unbeeindruckt von den globalen Kreisläufen des Kapitals. Jemand, der alles besitzt, ist nahezu unangreifbar. Außer, es kommt eine Frau ins Spiel.
Menschen sind bei Nolan nur Schachfiguren
Elizabeth Debicki spielt diese „Trophy Wife“, ein Faustpfand absoluter Macht, die aber nicht für die Zukunft der Menschheit, sondern nur die ihres Sohnes kämpft. Wie so oft bei Nolan müssen Kinder die Figuren wieder aus den Wurmlöchern seiner Drehbuchkonstellationen herausführen.
Doch wie sich die Australierin diese eher undankbare Rolle zu eigen macht, mit ihren 1,90 Meter sogar Washington und Pattinson überragt (ohnehin schon die unwahrscheinlichste Allianz mit einer erratischen Chemie), legt nahe, dass Debicki nach „Tenet“ in Hollywood alle Türen offen stehen.
Doch Menschen sind bei Nolan nur Schachfiguren. „Tenet“ handelt davon, ihre Züge zu rekonstruieren. Reversed Engineering. Seine Räume haben dabei immer etwas von metaphorischen Architekturen (die Batcave in „Dark Knight“, die Schneefestung in „Inception“), darum muss „Tenet“ am Ende auch noch mal zum Drehkreuz der Zeit zurückkehren, in dem Vergangenheit und Zukunft nur von einer Scheibe getrennt sind.
Dass Nolan immer wieder solche einleuchtenden Bilder für das Wesen des Kinos findet, macht ihn zu einem Regisseur, der das Kino wirklich liebt. Genau so einem möchte man dessen Rettung anvertrauen. Der Rest ist Spektakel in höchster Vollendung. Das Kino als Schlachtfeld der Gleichzeitigkeit.
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