"Unter der Drachenwand" von Arno Geiger: Mit den Augen der Toten
"Unter der Drachenwand": Arno Geigers bemerkenswerter Roman über das Kriegsjahr 1944 - und die Wesensverzerrungen der Menschen zu jener Zeit.
Es sind die ersten Tage des Jahres 1944, und der 24 Jahre junge, aus Wien stammende Wehrmachtssoldat Veit Kolbe ist gerade in Mondsee angekommen, einem Örtchen, das eine halbe Stunde Autofahrt entfernt von Salzburg liegt. Er war jahrelang als Lkw-Fahrer an der Front, zuletzt an der russischen, und er will und muss nun hier weitab vom Kriegsgeschehen seine Verwundungen auskurieren, einen gebrochenen Kiefer, ein durchschossenes Bein und hartnäckige Angststörungen. Was alles nicht so einfach ist: „Krieg war ja eigentlich das einzige, was ich noch kannte“, weiß Veit Kolbe. „Wie weit die Verzerrung des eigenen Wesens schon vorangeschritten ist, merkt man erst, wenn man wieder unter normale Menschen kommt.“
Um diese normalen Menschen, um ihre durch den Krieg veränderten Wesen, um das, was sie durch ihn alles verloren haben, weniger materiell denn in ihren Psychogeografien, darum geht es dem österreichischen Schriftsteller Arno Geiger in seinem neuen Roman mit dem Titel „Unter der Drachenwand“. Immer wieder bemerkt Veit, wie sehr ihm der Krieg zugesetzt, ihn seiner Jugend und womöglich auch seiner Zukunft beraubt hat, „auch ohne Zerwürfnis mit den Eltern war die zwischenmenschliche Bilanz meines Lebens verheerend“. Und, nicht weiter verwunderlich, immer wieder holt ihn eine diffuse Angst ein, die er mit einem Psychopharmakon bekämpft – oder mit dem Schreiben, das in seinem Fall primär therapeutischen Charakter hat.
Veit notiert alles, was er im Krieg erlebt hat, wie es um seine Jugend in Wien bestellt war, erzählt, was ihm nun in Mondsee widerfährt. Und wie es nicht zuletzt den vielen anderen Figuren ergeht, die Geiger ihm hier in Mondsee zu Füßen eines riesigen Felsmassivs, der titelgebenden Drachenwand, zur Seite gestellt hat. Zum Beispiel die Frau, die ihm ein Zimmer vermietet, die sogenannte Quartierfrau, die zwischen Treue zum Führer und einem gewissen Wahnsinn pendelt; der Onkel von Veit, der in Mondsee Polizist ist und dem die Pflicht über alles geht, selbst über seine geliebten Zigaretten; oder Margot, die mit einem Säugling aus Darmstadt hier gelandet ist und in die Veit sich verliebt.
Lange her, dass W.G. Sebald der deutschen Literatur ein "Luftkriegstrauma" attestierte
Von einer Normalität diesseits des Krieges sind sie alle weit entfernt. Auch in Mondsee gibt es Denunziationen, Verhaftungen, später zwei Tote, und aus dem improvisierten Ertüchtigungsheim in einem Gasthaus verschwindet ein aus Wien landverschicktes Mädchen. Erstaunlich ist es, wie Geiger es vermag, ihrer aller Sehnsucht nach Normalität sprachlich Ausdruck zu verleihen, wie er einen Ton für seine Figuren findet, insbesondere für die Gedankenwelt eines jungen Mannes und Soldaten jener Zeit. Veit Kolbe schreibt nicht wie ein Schriftsteller, sondern etwas stockend, mit kurzen, manchmal umständlichen Sätzen: „Mein Oberschenkel: der war nun wirklich ein merkwürdiges Kapitel.“ Oder: „Weiterhin war ich häufig müde und gedrückter Stimmung. Viele feindliche Flieger in der Luft, manchmal dreihundert und mehr“. Er hat dann jedoch häufig bemerkenswerte, angenehm unaufdringliche, alles andere als pädagogisch wirkende Eingebungen: „Jeder halbwegs nüchterne Mensch muss ein politisches System mit den Augen der Toten betrachten.“
Überraschend wirkt nach knapp hundert Seiten der leichte Bruch, mit dem Geiger versucht, sein 44er-Hinter-der- Front-Tableau umfassender zu gestalten, der kleinen Welt in Mondsee die große in den Städten beizustellen, nicht zuletzt um zu zeigen, dass dieses Jahr bestimmt wurde von den ständigen Bombenabwürfen der Alliierten. (Wie lange ist es doch her, dass W. G. Sebald der deutschsprachigen Literatur ein „Luftkriegstrauma“ attestierte und in dieser Hinsicht von einer „Selbstanästhesierung“ sprach!)
Plötzlich setzen andere Erzählstimmen ein, geht es um 400 Hasen, die in Darmstadt verteilt werden, was die Mutter von Margot in Briefen ihrer Tochter berichtet. Ein gewisser Kurti schreibt Liebesbriefe an seine Cousine, die an den Mondsee landverschickt wurde, aber auch vom Wiener Alltag; und schließlich gibt es da noch – hier zoomt Geiger ein, zwei Jahre zurück – Oskar Meyer, den Vater einer jüdischen Familie, der von den Verfolgungen berichtet und mit seiner Frau und einem Kind ausgerechnet nach Budapest übersiedelt, um den Nazis zu entkommen: „Also die Frage wohin. Untermiete bekommen wir Juden in Wien nur schwer, ist kostspielig, zumal zu dritt mit Wally und dem Kind , ich weiß mir eigentlich keinen Rat, hoffe aber, dass mich der liebe Gott nicht verlassen wird./ Wally ist auch sehr bedrückt.“
Geiger arbeitet die Ambivalenzen seiner Figuren gut heraus
Diese neuen Perspektiven irritieren zunächst, zumal sie sprachlich unterkomplexer, dafür noch eine Idee authentischer wirken – auch in ihren Redundanzen. Arno Geiger verbindet sie nach und nach jedoch alle harmonisch miteinander, es entsteht ein Beziehungsgeflecht, das sich so weit verästelt, dass Veit Kolbe am Ende Kurti gar begegnet (und Oskar Meyer zumindest von Weitem auf seinem Todesmarsch beobachtet).
Trotz seiner Sprache, die sich der Durchschnittsdeutschen und dem Durchschnittsösterreicher anverwandelt, die sich so um Authentizität bemüht, ist „Unter der Drachenwand“ ein gar nicht so leicht zu lesender Roman. Häufig geraten die jeweiligen Erzählstimmen ins Stocken. Was von Geiger dadurch unterstrichen wird, dass er praktisch auf jeder Seite mit Schrägstrichen als Satzenden, quasi als Erzählbrecher arbeitet, ähnlich wie bei Gedichten. Damit demonstriert er, dass sein Antikriegsroman bei aller gewollter Schlichtheit, allen Niederungen, in denen die Figuren sich bewegen, ein Kunstwerk eigenen Grades ist.
Überdies fällt auf, wie gut Geiger die Ambivalenzen seiner Figuren herausarbeitet, wie gleichermaßen distanziert und empathisch er ist. Da bekommen selbst die Quartiersfrau, ihr Nazi-Mann oder Veits Onkel, der Dorfpolizist, noch menschliche Züge, ohne dass ihre ideologischen Verblendungen beschönigt würden. „Unter der Drachenwand“ ist zudem ein Roman darüber, wie mitten im Krieg der kleine, vermeintlich unbedeutende Alltag, das Leben und das Lieben weitergehen, was angesichts der vielen Gräuel eine ganz eigene Grausamkeit besitzt. Dass das Leben natürlich auch nach dem Krieg weitergegangen ist, legt Geiger schließlich in einer dreiseitigen Nachbemerkung am Ende dar. In dieser listet er auf, was aus den Figuren geworden ist. Gleichzeitig weist der Anhang darauf hin, dass viele der Geschichten und Erzählungen dieses Romans auf realen Hintergründen beruhen, Geiger eine Menge dokumentarisches Material gesichtet hat.
Was jedoch für die Lektüre keine Rolle spielt: Arno Geiger hat aus der historischen Wirklichkeit, gerade aus der kleinen, nicht in den Geschichtsbüchern zu findenden, ein bemerkenswertes Stück Literatur gemacht.
Arno Geiger: Unter der Drachenwand. Roman. Hanser Verlag, München 2018. 480 Seiten, 26 €
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