Kunst: Missverständnis im Osten
„Käthe Kollwitz und Russland“: Das Berliner Kollwitz-Museum hat jetzt die Ausstellung rekonstruiert, die Kollwitz 1928 in Moskau, Leningrad und Kasan präsentierte, aus Anlass ihres 60. Geburtstags im Jahr zuvor. Die aktuelle Ausstellung korrigiert Vorurteile über die Künstlerin.
Beinahe könnte man von Käthe Kollwitz (1867–1945) behaupten, was Schiller über Wallenstein sagen lässt: dass ihr „Charakterbild in der Geschichte“ schwankt. Knapp zwanzig Jahre ist es her, dass die Aufstellung ihrer monumental vergrößerten „Pietà“ in der Neuen Wache Unter den Linden zum Streit über die bundesdeutsche Geschichtspolitik führ- te. Und heute? Den einen gilt sie als Verfechterin überholter sozialistischer Ideale, den anderen als Naturalistin aus den 19. Jahrhundert. Aktuell, in welchem Sinne auch immer, ist sie nicht mehr.
Da bedeutet es eine enorme Klärung, dass das der Künstlerin gewidmete Käthe-Kollwitz-Museum an eine besondere Neigung der Kollwitz erinnert, an ihre Liebe zu Russland. Sie wurde durch die russische Literatur genährt, durch Tolstoi, durch den frühen Gorki. Wie kein zweiter Repräsentant deutscher Kunst wurde sie in der jungen Sowjetunion ausgestellt. Das Museum in der Fasanenstraße hat in Verwirklichung eines seit 15 Jahren gehegten Plans jetzt die Ausstellung rekonstruiert, die Kollwitz 1928 in Moskau, Leningrad und Kasan hat zeigen können, aus Anlass ihres 60. Geburtstags im Jahr zuvor. 59 grafische Arbeiten wurden damals vorgestellt, zunächst im Moskauer Museum der Schönen Künste. Diese Blätter sind nun vollständig in der Fasanenstraße zu sehen, ergänzt um zahlreiche russische Grafiken, die den enormen Einfluss der Kollwitz auf die Künstler ihres Gastlandes belegen.
Die Organisation lag damals in Händen der „Assoziation Revolutionärer Künstler Russlands“, einer ungeachtet ihres Namens künstlerisch eher konservativen, auf abbildenden Realismus gerichteten Vereinigung. Sie wollten die politischen Arbeiten der überzeugten Sozialistin zeigen, die sie in ihr sahen.
Doch so verhält es sich nicht. „Kollwitz stellt in ihren Grafiken keine Hassfiguren dar, kein Bild des ,Klassenfeindes‘: Ihre Arbeiten sind nicht als Aufruf zur proletarischen Revolution zu interpretieren, sondern als Anklage gegen menschliches Leid allgemein“, macht dagegen Kuratorin Gudrun Fritsch in dem außerordentlich gelungenen Katalog deutlich. „Genau an dieser Stelle beginnt das Missverständnis in der Rezeption des Kollwitz’schen Werkes in der Sowjetunion, denn im Moskauer Katalog von 1928 wird der ,Weberaufstand‘ eindeutig so verstanden.“
Mit dem Zyklus „Weberaufstand“ nach dem Stück von Gerhart Hauptmann hatte Käthe Kollwitz 1898 ihren künstlerischen Durchbruch; er brachte ihr eine „Kleine Goldene Medaille“ ein. Die Radierungen des Zyklus „Bauernkrieg“, an dem sie nach 1900 arbeitet, sind zeitlose Formulierungen zu Themen wie Armut, Elend, Tod – und Verzweiflung, die in Aufstand mündet. Kollwitz ist die große Mitfühlende, und wenn sie in ihrem Holzschnitt von 1920 den ermordeten Karl Liebknecht betrauert, handelt es sich ikonografisch um eine Grablegung Christi.
Im Herbst 1914, bald nach Beginn des Ersten Weltkriegs, fiel ihr Sohn Peter in Flandern – ein Verlust, den sie nie verwindet. Ihr berühmtes „Ich will wirken in dieser Zeit“, das sie 1922 in ihr Tagebuch schreibt, bedeutet eben nicht den politischen Kampf, schon gar nicht die Revolution, von deren deutscher Variante von 1919 sie sich ernüchtert abwendet.
Gerade auf diesem Hintergrund ist die Neigung zu Russland – „Russland berauschte mich!“ – als Wahlverwandtschaft zu deuten. 1917, nach der Oktoberrevolution, hält sie fest, von Russland sei „etwas Neues in die Welt gekommen, was mir entschieden vom Guten zu sein scheint“. Diese Erlösungshoffnung ist es, die ihre aufrüttelnden Arbeiten durchzieht, wie das Plakat „Helft Russland“ von 1921, als der Bürgerkrieg zu Hungersnot und Millionen Toten führte.
Interessanterweise wurde ihre Ausstellung von 1928 – der weitere in den Jahren 1931, 1932 und 1934 folgten – nicht durchweg politisch interpretiert. Die russische Zeitschrift „Scheinwerfer“ schrieb einfühlsam, ihre Grafiken seien „durch eine Tendenz gezeichnet und doch nicht tendenziös“, sie seien „agitatorisch im besten Sinne“. So kann, so muss man es ausdrücken, allein, um die großartige Meisterschaft ihrer Zeichnungen, Radierungen und Lithografien nicht vor lauter „Inhaltismus“ – wie Brecht das nannte – zu übersehen. So ist die Ausstellung im Käthe-Kollwitz-Museum nicht nur historisch bedeutsam, sondern zugleich ein Augenöffner. Bernhard Schulz
Käthe-Kollwitz-Museum, Fasanenstr. 24, bis 20. Januar 2013, täglich 11-18 Uhr. Eintritt 6 €. Katalog bei E.A.Semann, 20 €, im Buchhandel 29,80 €. Veranstaltungsprogramm unter www.kaethe-kollwitz.de
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