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Wissen ist Macht. Die beste Methode: Spähen und selber unsichtbar bleiben.
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Snowden, Prism und Co.: Misstraue deinem Nächsten: zur Geschichte der Überwachung

Die Enthüllungen Edward Snowdens schockieren die westliche Welt. Dabei hat die Macht schon immer überwacht und ausspioniert - gerade auch ihre Freunde.

Als der englische Naturforscher und Staatsmann Francis Bacon Anfang des 17. Jahrhunderts die später von Lenin aufgenommene Formel prägte, Wissen sei Macht, dachte er zweifellos zunächst an den Fortschritt der Naturwissenschaften. Aber Bacon war zu sehr Politiker, um zu übersehen, dass auch an Macht gewann, wer über seine Feinde und Konkurrenten Bescheid wusste. In seiner Utopie „NeuAtlantis“ schicken die Bewohner des utopischen Inselreichs Spione aus, mercatores lucis, Kaufleute des Lichts, die in Erfahrung bringen sollen, was sonst in der Welt geschieht. Gleichzeitig sind die Neuatlantiker darauf bedacht, selber unentdeckt zu bleiben. Wer nicht weiß, dass es Neu-Atlantis gibt, kann dem Reich auch nicht gefährlich werden. Das Geheimnis ist das funktionale Gegenstück zur Spionage, im Ergebnis laufen beide auf dasselbe hinaus: Sie (ver-)schaffen Macht. Insofern gilt paradoxerweise auch der Satz, dass Nichtwissen Macht verschafft – das Nichtwissen der anderen.

Daran hat sich seit Bacon nichts geändert, trotz Demokratisierung und medialen Revolutionen. Wissensüberlegenheit schafft Machtüberlegenheit. Aber es geht nicht nur darum, Feinde und offensichtliche Konkurrenten auszuspähen: Sicher fühlt sich ein Mächtiger nur, wenn er weiß, was die wichtigen Personen in seiner Umgebung vorhaben. Nur sie können wirklich gefährlich werden, denn sie partizipieren am Machtwissen, steuern dessen Entstehung und kanalisieren sie. Sie vor allem müssen kontrolliert werden.

Dazu gibt es im Prinzip nur zwei Möglichkeiten: interne Transparenz oder zusätzliche Überwachungsagenturen. Demokratien bevorzugen die erste Option, autoritäre und diktatorische Systeme die zweite. Demokratien leisten sich damit ein höheres Maß an systemischer Verwundbarkeit. Es ist kein Zufall, dass die Assanges, Mannings und Snowdens alle aus Demokratien kommen, während aus China oder Russland nichts Vergleichbares bekannt ist. Das liegt nicht daran, dass dort weniger überwacht und spioniert wird. Potentielle Geheimnislüfter werden dort vielmehr von Überwachungsagenturen ausgespäht und „aus dem Verkehr gezogen“ – was immer das heißen mag. Autoritäre Regime sind weniger verwundbar. Aber das bezahlen sie damit, dass sie keine Antwort auf die Frage geben können, wer denn die Überwacher überwacht. Auch Demokratien können hier in die Bredouille geraten, wie man jetzt sieht, aber sie haben eine Vorstellung von Recht und Unrecht bei dieser Frage.

Die Republik Venedig sammelte erstmals systematisch Wissen

Überwachung und Spionage existieren, seitdem es gesellschaftliche und politische Macht gibt. Im Verlauf der Jahrhunderte wurden sie immer komplexer und anspruchsvoller. Vor der Entstehung des institutionellen Flächenstaats im 16./17. Jahrhundert belauerten sich die Anführer der größeren Personenverbände gegenseitig. Gleichzeitig mussten sie darauf achten, dass die Mächtigen in ihrer Umgebung nicht gegen sie intrigierten. Sie lebten in ständigem Misstrauen, wer am misstrauischsten war, hatte die größten politischen Überlebenschancen.

Das Misstrauen war der Ausgleich für die Wissensdefizite, die aus den begrenzten Möglichkeiten zur Überwachung und Spionage resultierten. Ohne Bürokratie war es unmöglich, große Wissensbestände aufzubauen und auf dem neuesten Stand zu halten. Ebenso wenig war ein kontinuierlicher, systematischer Vergleich von Informationsquellen möglich. Aus Mangel an zuverlässigem Wissen musste jeder Mächtige anderen Mächtigen misstrauen. Das verweist auf die dialektische Entstehungsgeschichte politischen Vertrauens: Es wächst in dem Maße, in dem belastbares Wissen über die Absichten und Pläne der anderen vorhanden ist. In der Politik ist Vertrauen nicht vorhanden, es muss erst geschaffen werden. Im Wesentlichen als Ergebnis von Beobachtung.

Es war die Seerepublik Venedig, die damit begann, systematisch Wissen zu sammeln und dieses Wissen zu archivieren. Zunächst über die größeren Mächte im östlichen Mittelmeer, dann auch über die eigenen Bürger, soweit sie wichtige Positionen einnahmen oder durch Missfallensäußerungen auffielen. Die Republik bekam Augen und Ohren. Das derart zusammengetragene Wissen wurde zum institutionellen Gedächtnis gebündelt, das zudem nicht länger an das individuelle Erinnerungsvermögen des Machthabers und seines Stabs gebunden war, sondern in Berichten und Akten archiviert wurde. So überdauerte es den Tod derer, die es zusammengetragen hatten. Diese Art des Überwachens und Ausspionierens blieb freilich lange Zeit auf jene beschränkt, die als äußere oder innere Konkurrenten selbst Machtambitionen hatten. Das einfache Volk war davon ausgenommen. Es spielte politisch keine Rolle, und wenn es einmal revoltierte, so war es schnell wieder ruhig zu stellen.

Die Pfarrer waren das Ohr, mit dem der Staat ins Volk hineinhorchte

Das änderte sich erst nach der Französischen Revolution: Talleyrands Spitzel hatten auch ein Auge auf das Volk. Bis dahin und noch lange danach war die Überwachung und Beobachtung des Volkes aber eigentlich Sache der Pfarrer. Und der Visitatoren, die die Pfarreien regelmäßig besuchten. Auch ohne Ohrenbeichte wusste der Pfarrer recht gut über die Stimmung der Gemeinde Bescheid. Er war das Ohr, mit dem der Staat kostengünstig ins Volk hineinhorchen konnte. Aber er war auch ein Sprachrohr, mit dem sich die Stimmungen des Volkes beeinflussen ließen. Das unterscheidet ihn von klassischen Überwachungsagenturen. Außerdem waren die Pfarrer nicht immer zuverlässig, sie entwickelten konkurrierende Loyalitäten. So ganz konnte sich ein Herrscher nicht auf sie verlassen, zumal sie zwar die allgemeine Stimmung in Erfahrung bringen, nicht jedoch Einzelpersonen ins Visier nehmen konnten. Sie ähnelten eher den Sonden der Demoskopie als den Ausspäheinrichtungen des Staates.

Die wachsende Staatsferne der Pfarrer und die Entfremdung der Menschen von der Religion führten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Wissensdefizit des Staates, das dieser auszufüllen bestrebt ist. Und zwar mit Hilfe der jeweiligen technischen Möglichkeiten, ob es sich nun um die Gestapo oder den KGB handelte, um die Stasi, den BND oder die Geheimdienste der westlichen Welt.

Die Pfarreien waren nicht die einzigen Orte, an denen sich der Staat Wissen beschaffte. Die Agenturen der sozialen Kontrolle, vom Einzelhändler an der Ecke bis zum Hausmeister und seiner Frau, wurden ebenfalls angezapft. Die Wissensbeschaffung von Kriminal- wie Schutzpolizei ist in der anonymisierten Welt heute ungleich schwieriger geworden. Der jetzt bekannt gewordene, in immensem Umfang erfolgte Zugriff auf Kommunikationsverbindungen und soziale Netzwerke ist auch ein Versuch, den Wegfall von vielen Orten sozialer Kontrolle durch kontrollierende Kommunikationstechnik zu ersetzen. Das Problem dabei: Der Kaufmann und die Hausmeisterin waren als Wissensspeicher einfach da. Die gewaltigen Datenmengen heute müssen hingegen erst geschaffen und durchkämmt werden.

Das hat den Legitimationsdruck auf den Staat erhöht. Zu Recht: In einer Demokratie wollen die Bürger wissen, was der Staat über sie wissen will. Eines sollte ihnen freilich klar sein: Es waren schon immer die „Freunde“, auf die die Überwacher ein besonderes Auge hatten; bei Feinden weiß man ja, woran man ist. Die aktuelle Empörung über die Freundes-Spionage zeigt, wie wenig die Kultur des Überwachens bislang verstanden wird.

Der Autor lehrt Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung“ (Rowohlt Berlin).

Herfried Münkler

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