Jury-Präsidentin der Berlinale: Meryl Streep, das ewige Glückskind
Königin des Melodrams, Meisterin der Komödie: Jetzt leitet Meryl Streep die Wettbewerbs-Jury der Berlinale. Eine Huldigung.
In einer Schlüsselszene des Umweltthrillers „Silkwood“ ruft Meryl Streep ihren Exfreund an. Sie steht in der Küche und telefoniert. „Es gibt ein paar Dinge, die ich mit dir besprechen wollte, der Wahlsieg hat mich Kraft gekostet“, sagt sie. „Ich komme mir...“, fährt sie fort, doch dann signalisiert sein Anrufbeantworter piepsend, dass die Aufnahme beendet ist. So führen ihre letzten Worte ins Nichts: „...ganz schön allein vor.“ Und dann beginnt Streep zu lachen.
Sie spielt die Laborantin Karen Silkwood, die Anfang der siebziger Jahre in einer Plutonium-Aufbereitungsanlage arbeitet, dort, ohne es zu wissen, verstrahlt wird und fürchten muss, wegen ihres Engagements für eine Gewerkschaft gefeuert zu werden. Jetzt hat auch noch ihr Freund sie verlassen. Aber sie lacht bloß, glucksend, tränenreich. Als ließe sich Angst weglachen.
"Eine Art Überlebensinstinkt"
Angst ist die größte Motivation der Schauspielerin Meryl Streep, die in diesem Jahr als Präsidentin die Jury der Berlinale leitet, der unter anderem ihre Schauspielkollegen Lars Eidinger und Alba Rohrwacher angehören. Die Angst vor dem Scheitern an der Figur sei „aber auch die Angst, die mir hilft, eine Art Überlebensinstinkt zu entwickeln“, sagt Streep. Für die Arbeit als Jury-Chefin sieht sie sich gewappnet, wie sie nun der „Zeit“ mitteilte: „Ich bin vierfache Mutter und weiß also, wie man Streit schlichtet, in schwierigen Situationen ablenkt und die Wogen glättet.“
Als Gewerkschaftsaktivistin Silkwood, die 1974 bei einem nie aufgeklärten Autounfall starb, entwickelte Streep ihren Rollentypus der unheroischen Heldin. Mit ihrer schlanken Figur, den langen Gesichtszügen und dem blassen, fast durchsichtigen Teint wirkt sie schutzbedürftig, mitunter somnambul. Aber sie agiert zielstrebig und tough. Als sie in „Silkwood“ von einem Kollegen angemacht wird, reißt sie ihre Bluse auf, zeigt ihm ihre Brust und blafft: „Was guckst du so ?!“
Sie sucht den analytischen Zugang
Streeps Heldinnen darf man nicht unterschätzen. In ihrer Sanftheit versteckt sich Kampfesmut. Die Genealogie führt von „Silkwood“ (1983) über die Schriftstellerin Karen Blixen in „Jenseits von Afrika“ (1985), die Virginia-Woolf-Leserin Laura Brown, die in „The Hours“ (2002) vor dem Selbstmord zurückschreckt, bis zu Margaret Thatcher in „Die Eiserne Lady“ (2011) und der Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst im kürzlich gestarteten Historiendrama „Suffragette“, einer etwas rhetorischen Nebenrolle.
Linkisch treten diese Frauen mitunter auf und entwickeln ihr Selbstbewusstsein im Lauf des Films, wie 1995 in „Die Brücken am Fluss“, wo sie mit Clint Eastwood das Leinwandliebespaar des Jahrzehnts verkörperte. Sie suche immer den „analytischen Zugang“ zu ihren Rollen, sagt Streep. Wohl deshalb verfällt sie ihren Figuren nicht mit Haut und Haar, immer bleibt eine Restdistanz.
Linkisch sein, ohne Selbstbewusstsein, das gilt natürlich nicht für die Eiserne Lady, die starrsinnige Staatenlenkerin, die Streep in einer bis zur letzten Locke der Betonfrisur reichenden mimetischen Perfektion verkörpert, Durchhalteparolen bellend: „Wir stehen zu unseren Prinzipien, oder wir stehen auf verlorenem Posten.“ Sie hat die Politikerin durchaus auch bewundert, für ihren Aufstieg aus der Mittelschicht und fürs „Rückgrat, das es brauchte, um die Menge an Hass auszuhalten, die ihr entgegenschlug“.
"Ich war die Frau fürs Ernste"
Für „Silkwood“ erhielt Meryl Streep eine ihrer 19 Oscar-Nominierungen. Für „Die Eiserne Lady“ hat sie ihren letzten Oscar bekommen, den dritten nach ihren Auftritten im Scheidungskriegsfilm „Kramer gegen Kramer“ und der Holocaust-Tragödie „Sophies Entscheidung“. Sie ist damit die meistnominierte Schauspielerin aller Zeiten, nur Katherine Hepburn hat ihr einen Oscar voraus.
Streep, 1949 in New Jersey geboren, begann ihre Karriere nach einem Schauspielstudium in New York mit zwei aufsehenerregenden Auftritten in der Fernsehserie „Holocaust“ und in Michael Ciminos Vietnamkriegsfilm „Die durch die Hölle gehen“.
Die Schoah, Atomangst, tragische Trennungen und nicht zuletzt der Krieg, der Amerika auf Jahre traumatisierte – mit diesem Themen-Portefeuille stieg Streep zur Königin des Dramas auf. „Ich war die Frau fürs Ernste, so sahen mich die Leute“, beschreibt sie das Dilemma. Arbeit hat sie immer gehabt, seit 1977 drehte sie jedes Jahr mindestens einen Film, manchmal sogar vier. Dass sie neben der Fähigkeit zur Charakterdarstellerin auch noch über andere Talente verfügt, ist lange ignoriert worden.
Als Streep 40 wurde und gegen ihr Image der Tragödin rebellieren wollte, bekam sie gleich drei Angebote für Filmrollen als Hexe. Stattdessen trat sie, einer der ersten Versuche im leichten Fach, in der Himmelskomödie „Rendezvous im Himmel“ und als immer böser lädierte Unsterbliche in „Der Tod steht ihr gut“ auf.
Hits, Hits, Hits
Als Teenagerin ist Meryl Streep oft von ihrer Mutter in Musicals mitgenommen worden, sie absolvierte auch eine klassische Gesangsausbildung. In einer der schönsten Szenen von „Silkwood“ singt sie während einer endlosen Autofahrt das Kirchenlied „Amazing Grace“, und ihre helle Sopranstimme wird zur Hoffnung in der verregneten Nacht. Später hat sie kaum mehr gesungen, die meisten ihrer Filme eigneten sich nicht für Gesangseinlagen. Bis Robert Altman sie 2006 in seinen Film „A Prairie Home Companion“ holte, einen melancholischen Abgesang auf die Country-Radioshows alten Schlages.
Dort verkörpert Meryl Streep eine Nashvillediva mit genregerecht hochtoupierten Haaren, ihre schmachtend intonierte Hymne heißt „My Minnesota Home (Swanee River)“. Bald danach schmetterte Streeps Hits, Hits, Hits, herrlich hemmungslos, von „Money, Money, Money“ bis „Dancing Queen“, in der Verfilmung des Abba-Musicals „Mamma Mia!“ Die Schauspielerin lobte übrigens die musikalische Vielfalt der schwedischen Popband: „Beschwingte Tanzlieder, komische Nummern, sanfte Schlaflieder und Songs über große dramatische Gefühle – das ist eine ganze Landschaft von Gefühlen.“
Man darf sich Meryl Streep als ewiges Glückskind vorstellen. Mit über 60 Jahren bekommt sie, wohl als erste Hollywood-Schauspielerin überhaupt, Hauptrollen in romantischen Komödien. Und die unentwegt Gute darf endlich abgrundtief Böse spielen, das Modepressebiest Miranda Priestly in „Der Teufel trägt Prada“ oder die giftige Patriarchin Violet Weston im Familiendrama „Im August in Osage County“. „Ja, ich habe eine Glasscheibe durchschlagen und es für andere leichter gemacht. Das ist gut“, sagt sie. „Aber ich habe keine Theorie, keine Erklärung für die Tatsache, dass die Leute mich immer noch sehen wollen.“ Vorsichtige Vermutung: Vielleicht, weil sie einfach eine sehr sehr gute Schauspielerin ist.