"Verrücktes Blut" im Ballhaus Naunynstraße: "Mensch, das ist ja besser als Hollywood!"
Sie spielen den Theaterhit der Saison: "Verrücktes Blut" – einen postmigrantischen Thriller und Schulklassenkampf im Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße. Ein Gespräch mit dem Ensemble, Regisseur und Autor Nurkan Erpulat und Theaterchefin Shermin Langhoff.
Als Sie alle das „Verrückte Blut“ im vergangenen Jahr herausgebracht haben, tobte gleichzeitig die Sarrazin-Debatte. Ihre gefeierte und jetzt auch beim Berliner Theatertreffen gezeigte Aufführung handelt von einer konfliktgeladenen Schulklasse und spielt mit den Klischees, aber auch den Wahrheiten von muslimischen Macho-Jungs und vermeintlich unterwürfigen Kopftuchmädchen; sie spielt zugleich mit Schiller, mit den einst revolutionären deutschen Bildungsidealen und den Absurditäten einer heutigen Leitkultur. Damit haben Sie die ganze Sarrazin-Debatte auf fulminante Weise erübrigt. War Ihnen gleich bewusst, was für ein heißes Eisen Sie da schmieden?
SESEDE TERZIYAN: Das alles sind Themen, mit denen wir groß geworden sind. Dafür habe ich keinen Thilo Sarrazin gebraucht. Und wenn die Bundesrepublik ihn braucht, um über etwas zu reden, was seit Jahrzehnten fällig gewesen wäre, dann ändert das nichts an meinen Erfahrungen.
NORA ABDEL-MAKSOUD: Ich war relativ erschrocken über die Debatte. Wir hatten keine Ahnung von unserem Timing und den Folgen. Doch für mich ist es eine große Genugtuung, dass wir einen Gegenentwurf setzen.
Wer von Ihnen hat Sarrazin gelesen?
SESEDE TERZIYAN: Ich nur, weil ich mich genötigt gefühlt habe –
NORA ABDEL-MAKSOUD: Weil du in Interviews immer danach gefragt wirst.
SESEDE TERZIYAN: Weil ich permanent damit konfrontiert werde, leider. Und es beschränkt sich oft auf diese polemische Integrationsdebatte, da wollte ich es doch mal gelesen haben.
NURKAN ERPULAT: Journalisten haben mich andauernd gefragt, was ich darüber denke. Wenn ich dann allerdings zurückgefragt habe, ob die Journalisten selber das Buch gelesen haben, riefen sie: Nein, nein! Sie stellen Fragen mit dem Halbwissen aus der „Bild“-Zeitung, aber von mir als türkischem Regisseur in Deutschland erwarten sie die Aufklärung.
SHERMIN LANGHOFF: Ich gestehe, ich habe es nur quergelesen – nachdem Nurkan sich das Buch vom Deutschen Theater hat kaufen lassen. Aus unserer Ballhaus-Kasse sind keine Tantiemen an Herrn Sarrazin geflossen. (lacht)
Das Stück zeigt neben den Actionszenen und fetzigem Dialogpingpong viele den Zuschauer überraschende Wendungen. Sie, Frau Terziyan, bringen in der Rolle der Klassenlehrerin Sonia Kelich ihre Schüler mit vorgehaltener Pistole zur Lektüre von Schillers „Räubern“. Inwieweit existierte „Verrücktes Blut“ schon als feste Vorlage?
SESEDE TERZIYAN: Überhaupt nicht.
Wie bitte?
SHERMIN LANGHOFF: Seitens der Ruhrtriennale wurde die Idee an uns als Postmigrantisches Theater herangetragen, den hier weitgehend unbekannten französischen Film „La journée de la jupe“ zu adaptieren, den wir sehr schwierig fanden, fallenreich und selber in Stereotypen verbleibend. Aber das Motiv – eine Lehrerin macht eine widerspenstige Klasse zu ihrer Geisel, wie eine Bildungsterroristin – schien uns theatral durchaus spannend, gerade in Zeiten dieser bereits angesprochenen Diskurse. Ich persönlich erlebe es immer öfter, dass vor allem weiße autochthone Menschen die Aufklärungsfahne schwenken, auch im Gegensatz zum angeblich nicht aufgeklärten Islam. Und gleichzeitig mit der anderen Hand auf Alleinerziehende, Hartz-IV-Empfänger, Migranten und andere angeblich Schuldige oder Unbelehrbare verweisen. Ich habe Aufklärung anders gelesen und verstanden.
Also wurde nach einer Grundidee erst mal improvisiert?
SESEDE TERZIYAN: Es war von vornherein klar, es werden Schiller-Texte benutzt, nicht Molière wie im Film, es war auch klar, dass Nurkan deutsches Liedgut verwenden wird. Wir hatten eine Vorprobenzeit, da haben wir improvisiert, und wenn etwas passiert ist, an dem Nurkan dranbleiben wollte, sind wir da noch mal tiefer reingegangen. Das war im Juni/Juli 2010.
Während der Fußballweltmeisterschaft? Wie haben Sie das durchgehalten?
GREGOR LÖBEL: (lacht) Schwer! Draußen war WM und Sommerwetter, und wir saßen im Probenkeller.
NURKAN ERPULAT: Das hat tatsächlich zu vielen Konflikten geführt.
SESEDE TERZIYAN: Vor allem bei den Männern. Später haben sich Nurkan und der Dramaturg Jens Hillje noch mal zurückgezogen und den roten Faden durch die improvisierten Szenen gelegt.
NURKAN ERPULAT: Wir hatten zwei Assistenten, die alles verschriftlicht haben, und diesen ganzen Texthaufen haben wir dann bearbeitet.
SESEDE TERZIYAN: Aber zu 90 Prozent ist das Stück aus den Improvisationen entstanden. Das haben wir dann noch sieben Wochen geprobt.
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{"Bei uns allen hat die Identität viele Wurzeln."}
Hatten Sie alle zuvor schon einmal auf der Bühne gestanden?
GREGOR LÖBEL: Was meinen Sie mit Bühne?
Okay, auch das Leben ist eine Bühne. Aber hatten Sie schon mal Geld mit Theater, Film oder Fernsehen verdient?
EMRE AKSIZOGLU: Ich mache mein Diplom an der Folkwang-Hochschule in Essen und gehe ab Sommer ins feste Engagement ans Düsseldorfer Schauspielhaus. (Jubelschreie und Glückwünsche der anderen) „Verrücktes Blut“ war trotzdem die erste Produktion, mit der ich Geld verdient habe.
NORA ABDEL-MAKSOUD: Ich habe 2005 bis 2009 Schauspiel studiert an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolff in Potsdam-Babelsberg. Ich bin Diplom-Schauspielerin.
SHERMIN LANGHOFF: Das beste Solo ihres Jahrgangs, gepriesene Abgängerin!
RAHEL JOHANNA JANKOWSKI: Ich habe nicht studiert und bin nicht fertig (lacht). Ich stand aber schon auf der Bühne, vor allem auch mit Musik, habe im Orchester gespielt, war auf einem Musikgymnasium. Das hier ist meine erste Produktion, mit der ich Geld verdiene.
Kommen Sie aus Berlin?
RAHEL JANKOWSKI: Ja, da geht’s schon los. Bei uns allen hat die Identität viele Wurzeln. Ich wohne seit vier Jahren in Berlin, habe aber auch an vielen anderen Orten gelebt. Unter anderem in Luxemburg, kurz in Paris.
SESEDE TERZIYAN: Ich habe 2005 in Berlin mein Studium absolviert, an der Ernst-Busch-Hochschule, seitdem arbeite ich als Schauspielerin, an deutschen Theatern und im Fernsehen, „Tatort“ zum Beispiel.
GREGOR LÖBEL: Ich habe keine Schauspielausbildung, ich war Zivi an der Schaubühne, als Assistent der Theaterpädagogik, da hatte ich mit der Jugendtheatergruppe zu tun und konnte manchmal für jemanden einspringen. Dann war ich im Ausland, habe auf See eine Lehre als Schifffahrtskaufmann gemacht, bin zurück nach Deutschland und habe mich an mehreren Schauspielschulen beworben. Die haben mich nicht genommen, dafür hat es beim Casting für „Verrücktes Blut“ geklappt.
EROL AFSIN: Ich wurde letzte Woche an der Folkwang-Schule Essen genommen. (Allgemeiner Applaus)
NORA ABDEL-MAKSOUD: Noch freust du dich!
EROL AFSIN: Ich werde mich immer freuen. Ich bin seit vier Jahren in Deutschland, davor habe ich nie richtig professionell auf der Bühne gestanden. Jetzt, nach „Verrücktes Blut“, habe ich auf Zypern, mit Tamer Arslan zusammen, einen Kurzfilm gedreht, der beim Filmfestival in Adelaide gerade als bester Kurzfilm ausgezeichnet wurde.
Stimmt es, dass Sie zuerst in der Türkei Schauspiel studieren wollten?
EROL AFSIN: Ja, aber meine Eltern waren streng dagegen. Und wenn die Nein sagen, dann bleibt es bei uns beim Nein. Mir blieb nichts übrig, als ins Ausland zu gehen, um das zu machen, was ich will.
SOHEL ALTAN GOL: Ich bin in Berlin geboren und habe in der Naunynritze mit Jugendtheater angefangen und dann beim „Diyalog Theaterfest“ mehrere Male gespielt. Vor zwei Jahren hatte ich mich an der UdK beworben, wurde auch angenommen, jedoch nach einem Jahr wieder exmatrikuliert, aus Gründen, die ich nicht verstanden habe. Jetzt bin ich hier am Ballhaus …
Was für Gründe waren das?
SOHEL ALTAN GOL: Mir wurde Faulheit vorgeworfen, ein Disziplin-Problem. Meiner Meinung nach war das nicht vorhanden.
TAMER ARSLAN: Ich habe mit 18 das Theater eher hobbymäßig angefangen, das war eine soziale Einrichtung für Jugendliche, die von der Schule rausgeschmissen worden sind. Da habe ich entdeckt, dass ich Schauspieler werden will. Oder Dachdecker, eins von beidem (Gelächter). Dann bin ich anderthalb Jahre nach Italien, habe da auch eine Theaterschule besucht, bin zurückgekommen, war auf einer Filmschauspielschule in Berlin und gleichzeitig habe ich am Ballhaus angefangen, mit „Ferienlager – die 3. Generation“. Das habe ich heimlich gemacht, und als das rauskam, bin ich von der Filmschule weg, die haben das nicht kapiert.
SHERMIN LANGHOFF: Jetzt hast du die ökonomische Seite ausgelassen, deine Mutter musste hart arbeiten dafür.
TAMER ARSLAN: Ja, die hat das finanziert. Dann habe ich gesagt, okay, ich werde selber sehen, wie ich weiterkomme. Seitdem spiele ich Theater und habe jetzt einen Kurzfilm und einen Kinofilm gemacht, gerade lief „Liebeskuss am Bosporus“.
Das klingt mehr nach Fernsehen.
TAMER ARSLAN: (lacht) Ja, das war Fernsehen.
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{"Es geht hier nicht darum, vordringlich die Jugendlichen oder die Schüler aufzuklären."}
Am Anfang von „Verrücktes Blut“ steht eine Choreografie, in der die Schüler als rotzende, grölende „Kanaken“-Rüpel auftreten. Gab es Debatten darüber, welche Klischees man da aufbaut, um sie dann wieder einzureißen?
NORA ABDEL-MAKSOUD: Das war unsere erste Improvisation. Es wurde zu Probenbeginn gesagt, dass wir jetzt nicht auf politische Korrektheit achten sollen!
EMRE AKSIZOGLU: Die Figuren sind ja immer nur angerissen und verkörpern auch die Klischees, die in den Köpfen stecken. Und wir hatten die Freiheit, diese Klischees benennen zu können, aber nicht, indem ich mich hinstelle und sage: Wir kratzen uns in Wirklichkeit gar nicht dauernd an den Eiern, wir spucken nicht auf den Boden. Sondern indem wir die Machogesten, die aggressiven Haltungen einfach spielen. Das hat mir großen Spaß gemacht!
NURKAN ERPULAT: Ich muss dazu mal was sagen. Es ist immer von Klischees und Stereotypen die Rede. Die schauspielerische Aufgabe war aber zu untersuchen: Wie werden diese jungen Menschen gesehen? Ob die Figuren tatsächlich so sind, ist eine ganz andere Frage.
Wenn die Jungs sich in „türkische“ oder „arabische“ Machoposen werfen und an den Sack fassen, soll das einerseits ein Stück reales Verhalten spiegeln – und auf der anderen Seiten zeigen: Es ist als Klischee auch die Sicht der Gesellschaft auf diese Jugendlichen?
NURKAN ERPULAT: Die spielen nicht das Klischee! Wir kritisieren den Blick auf diese Jugendlichen. Und der ist kein Klischee, der ist die Wahrheit. Ich erzähle in dem Stück nur: So werden die Jugendlichen gesehen!
Gab es etwas, was euch an so einer Szene unangenehm war?
SOHEL ALTAN GOL: Nicht unbedingt unangenehm. Aber es hat mich an meine Schulzeit erinnert, es hat etwas wieder aufgeweckt. Ich war in so einer Klasse. Okay, die Waffe blieb in der Tasche, und es war auch keine echte Pistole ...
Bei den Schülern?
SOHEL ALTAN GOL: Die Lehrer hatten keine Waffen, gar keine, nicht mal Kompetenz. Jedenfalls hat mich das daran erinnert, was ich mit meinen Freunden in der 9. oder 10. Klasse gemacht habe – ich habe eine alternative 80er-Jahre-Erziehung genossen, sehr frei, ein bisschen zu frei vielleicht sogar.
SESEDE TERZIYAN: Da öffnen sich ja Welten!
Wo sind Sie zur Schule gegangen?
SOHEL ALTAN GOL: In Kreuzberg.
NURKAN ERPULAT: Er war auf der Waldorfschule. (Tumultuarisches Gelächter)
SOHEL ALTAN GOL: Die Gewaltszenen waren der einzige Punkt, wo ich mich unwohl gefühlt habe.
Das Stück verlangt, zumindest von einigen der männlichen Darsteller, vor der Lehrerin und den Mädchen die Hosen runterzulassen. War das ein Problem?
SESEDE TERZIYAN: Das kam auch aus einer Improvisation. Tamer hat nicht mit mir mitgespielt, ich wollte aber die Szene in eine bestimmte Richtung drängen, und da dachte ich mir: Okay, Tamer, Hose runter! Mir blieb nichts anderes übrig. Tamer hat mich mit großen Augen angeguckt und gerufen: Sesede-Abla, das kannst du mit mir nicht machen!
SHERMIN LANGHOFF: Abla heißt große Schwester.
SESEDE TERZIYAN: Und dann hat Tamer wirklich die Hosen runtergelassen.
Gab es denn die Verabredung, dass die Lehrerin die Schüler zu allem bringen darf, was sie will?
GREGOR LÖBEL: Es gab das nicht als feste Verabredung. Es ging einfach darum: Lasst euch drauf ein! Das war manchmal extrem hart. Da macht mich eine Frau mit einer Waffe fertig, ich muss die Hose runterlassen.
NORA ABDEL-MAKSOUD: Deswegen war es auch schockierend, als auf der Ruhr-Triennale das erste Mal Publikum drin war, das sich gerade bei diesen Szenen weggeschmissen hat vor Lachen. Wir hatten eher Betroffenheit erwartet, und plötzlich haben uns die Leute angelacht, ausgelacht.
SESEDE TERZIYAN: Aber das wird nur humorvoll aufgenommen und das Lachen ist auch kathartisch.
GREGOR LÖBEL: Klar, das sind auch Spannungen, die sich lösen. Aber wie man da vom Publikum gesehen wird, das war erst mal gewöhnungsbedürftig.
SESEDE TERZIYAN: Rahel hat die ganze Zeit geweint, daher kommt das jetzt auch im Stück vor. Sie hat immer gerufen: Ich dachte, die Lehrerin macht mich fertig!
Haben Sie real geweint?
RAHEL JOHANNA JANKOWSKI: Also – ja. Es waren schon echte Tränen, ich habe nichts in die Augen getropft bekommen. Ich weine immer original (lacht). Wir haben so intensiv geprobt, dass es mich wirklich zum Weinen gebracht hat. Ich durfte das in meiner Rolle, zum Glück.
Wie ist jetzt der Unterschied, wenn Sie in Berlin oder anderswo vor Schulklassen spielen?
GREGOR LÖBEL: Dann wird über ganz andere Witze gelacht. Das Stück ist ja eher aufs Bildungsbürgertum hin angelegt. Junge Schüler aus Kreuzberg oder Neukölln kapieren das zum Teil gar nicht. Die lachen über irgendwelche Sprüche von uns Schülern, wenn wir zu der Lehrerin sagen: „Sie sehen ja richtig bombe aus!“, dann sind sie auf unserer Seite. Und wenn zum ersten Mal die Pistole auf den Boden fällt, kommt aus dem Publikum: „Ey, krass, ’ne Waffe, ich schwöre, da is’ ’ne Waffe auf dem Boden!“ Wo wir denken: Moment, das ist doch unser Text. Aber die sind oft zum ersten Mal im Theater, das ist auch geil.
SHERMIN LANGHOFF: Man muss dazu sagen: Es gab zwei Schulvorstellungen für Schüler ab 16, die wir auf Wunsch unserer Partnerschaftsschulen, der Röntgen-Schule und der Kurt-Löwenstein-Schule, ermöglicht haben. Im Moment erleben wir aber einen Konflikt, weil wir von sehr respektablen Kinder- und Jugendtheaterfestivals eingeladen werden, wir das aber nicht annehmen können. Wir schätzen Kinder- und Jugendtheater sehr, fühlen uns aber missverstanden, wenn „Verrücktes Blut“ so gelabelt wird. Wenn das auch Aufklärungstheater ist, dann ist es schon gemeint für ein erwachsenes Publikum, egal welcher Herkunft. Zu uns kommen ja auch viele Meinungsbildner, auch Politiker wie der Unions-Bundestagsfraktionsvorsitzende Volker Kauder. Es geht hier nicht darum, vordringlich die Jugendlichen oder die Schüler aufzuklären.
Aber was passiert, wenn ein Publikum kommt, das die Brüche, die Mehrbödigkeiten, auch die Ironie nicht gleich versteht?
SESEDE TERZIYAN: Die wird verstanden, auch von Jugendlichen.
NORA ABDEL-MAKSOUD: Nein, nur zum Teil.
Was heißt das?
NORA ABDEL-MAKSOUD: Man bekommt von den Publikumsreaktionen viel mit auf der Bühne. Es gibt ja zum Beispiel die Szene, in der meine Figur plötzlich ihr Kopftuch abnimmt - das thematisiert ganz klar diesen Blick, diesen Wunsch, dass das vermeintlich unmündige Kopftuchmädchen endlich ihr „Drecks-Tuch“ runterreißt, und dann fahren 70 Jahre Emanzipationsgeschichte durch ihren Körper! Wo ich mir auch gar nicht so sicher bin, ob das bürgerliche Publikum das mehrheitlich versteht. Es ist natürlich mit einer hohen Ambivalenz angelegt, es gibt eine Deutungsfreiheit, aber gerade bei den Schulklassen habe ich es da schwer.
Waren Mädchen im Publikum, die ein Kopftuch tragen, schockiert?
NORA ABDEL-MAKSOUD: Schockiert nicht, aber es fängt ein Diskurs an im Publikum.
SESEDE TERZIYAN: Ja toll. Das ist genau das, was wir wollen. Gerade diese Kopftuchszene - einmal hat ein Mädchen nach der Vorstellung gesagt: „Das ist besser als Hollywood!“
EMRE AKSIZOGLU: Aber heißt das, dass sie verstanden hat, was sie gesehen hat?
SESEDE TERZIYAN: Ich denke, ja.
EMRE AKSIZOGLU: Ich glaube, die Jugendlichen sind eher begeistert von der Energie, die wir auf der Bühne haben, und dem Spaß, den wir rüberbringen. Die schauen gerne zu, saugen alles auf, aber meine Meinung ist, dass sie die Vielschichtigkeit, die Brüche, nicht verstehen, weil der Grad an Reflexion noch nicht so hoch ist.
SESEDE TERZIYAN: Ich würde von meiner Wahrnehmung her komplett widersprechen.
NORA ABDEL-MAKSOUD: Man kann jetzt auch nicht immer sagen: die Jugendlichen.
EMRE AKSIZOGLU: Natürlich geht es nicht darum, dass alle so denken. Natürlich gibt es Leute, die das verstehen. Es geht mir nur darum, wie das Stück im Allgemeinen bei den Jugendlichen oder im Allgemeinen bei den Erwachsenen ankommt, sonst kann man ja hier gar keine Frage beantworten, wenn man für jeden Einzelnen sprechen soll.
RAHEL JOHANNA JANKOWSKI: Meine Wahrnehmung ist, dass Schüler sehr wohl verstehen, dass da ein Spiegel vorgehalten wird und zugleich eine Überspitzung stattfindet. Auf der anderen Seite erlebe ich es, dass ich hinterher von älteren Leuten gefragt werde: Bist du denn wirklich in Neukölln aufgewachsen, im Ghetto? Worauf man zurückfragen möchte: Haben Sie gar nicht verstanden, dass wir Theaterrollen spielen? Die Schulklassen sehen das sofort.
EMRE AKSIZOGLU: Wenn die das sofort sehen, ist die Frage, warum gibt es Schüler, die sich selber genau so verhalten, wie wir das spielen? Ich meine eine ganz normale, gemischte deutsche Schulklasse, in der alle Kulturen, alle Länder im Querschnitt vertreten sind. Da gibt es natürlich junge Männer, junge Jungs, die sich so benehmen. Jedes Klischee hat einen Kern von Wahrheit. Es geht ja nicht darum zu sagen: das gibt es nicht! Sondern: nicht nur! Problematisch wird es, wenn nur das Negative gesehen und vergrößert wird, um die Probleme im eigenen Land auf andere schieben zu können. Wie bei Sarrazin.
SHERMIN LANGHOFF: Sicher stimmen alle diese Wahrnehmungen. Aber nach nur zwei Schulvorstellungen ist es noch nicht möglich, eine wirkliche Rezeptionsgeschichte draus zu stricken. So oder so würde ich mich weder über Jugendliche noch über bestimmte Schichten von Publikum, bürgerlich oder nicht bürgerlich, erheben und sagen: Jemand hat verstanden oder nicht verstanden.
SESEDE TERZIYAN: Als wir bei der Ruhr-Triennale gespielt haben, kam nach der zweiten Vorstellung eine Frau auf mich zu, die hat mich richtig gekrallt und rief: „Mensch! Sie haben mir so aus der Seele gesprochen! Wissen Sie, wie oft ich mir im Unterricht eine Peitsche gewünscht habe!“ Ich hatte wirklich Angst. Die hat dann angefangen, aus ihrer Schulzeit zu erzählen, was ihr als Lehrerin alles passiert ist, sich dann aber selbst unterbrochen und gesagt: „Das hat was mit meinem persönlichen Frust und mit meiner Überforderung zu tun.“ Das fand ich dann schon wieder unheimlich gut!
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{"Mein bester Freund ist Ausländer, der ist Österreicher, der wird aber nicht als Mensch mit „Hintergrund“ bezeichnet"}
Wie haben eigentlich Ihre Familien reagiert, oder enge Freunde?
SOHEL ALTAN GOL: Mein Vater saß einmal im Publikum, bei einer Aufführung, wo es dauernd Gelächter gab. Gegen Ende des Stücks fragt Sesede die Zuschauer, ob sie was verstanden hätten, aber auf Türkisch. Und mein Vater hat auf Türkisch geantwortet: Also ich habe es verstanden, aber die da hinten offenbar nicht, die haben ja die ganze Zeit gelacht.
SESEDE TERZIYAN: Aber könnt ihr euch an eine Vorstellung erinnern – das Publikum war gemischt, vielleicht 20 Jugendliche, der Rest Erwachsene und ein sehr konservatives Publikum – hier im Ballhaus.
GREGOR LÖBEL: Die Schüler saßen fast alle vorne, die Erwachsenen hinten, und es gab eine Art Fight um die Deutungshoheit des Stückes – worüber man lacht. Die Erwachsenen haben immer gelacht, wenn die Schüler still waren, und umgekehrt haben die Schüler gejohlt, wenn die Erwachsenen schwiegen.
SESEDE TERZIYAN: So wie wir auf der Bühne miteinander gekämpft haben, gab es einen Kampf im Publikum. Einen Lachkampf.
GREGOR LÖBEL: Meine Mutter war in einer anderen Vorstellung und ist danach unten in der Bar von zwei türkischstämmigen Frauen um die 50 angesprochen worden, die sich beschwert haben, dass wir nur Klischees darstellen, das, was sie schon ständig auf der Straße sehen. „Warum bringt ihr das noch auf die Bühne?“ Die wollen, genau wie das deutsche Bildungsbürgertum, im Theater halt lieber das Erhabene sehen und keine schmutzige soziale Realität.
Sie haben am Anfang gesagt, dass der klischeebeladene Blick Ihnen selber begegnet. Wie werden Sie damit konfrontiert?
NORA ABDEL-MAKSOUD: Mir ist der zum ersten Mal auf der Schauspielschule begegnet, wo ich immer gefragt wurde, ob ich die Ayse im Ehrenmord-Drama spielen will. Ich bin geboren und aufgewachsen in München und war ganz lange einfach ich. Und auf der Schauspielschule war ich plötzlich gebeten, die andere zu spielen. Das hat mich perplex gemacht. Dieses Dauerwort Migration, das gibt es auch erst seit fünf Jahren – jetzt bin ich plötzlich Migrantin und wundere mich darüber. Auf einmal habe ich einen „Hintergrund“. Mein bester Freund ist Ausländer, der ist Österreicher, der wird aber nicht als Mensch mit „Hintergrund“ bezeichnet.
Haben Sie die Ayse-Rollen denn angenommen?
NORA ABDEL-MAKSOUD: Ich hab sie nicht alle gekriegt! (Lacht). Aber ich habe tatsächlich ein paar abgesagt, weil es sich so gehäuft hat.
EMRE AKSIZOGLU: Mir ist das eher umgekehrt passiert, dass ich für gewisse Sachen nicht genommen wurde. Obwohl ich in Heidelberg geboren und in Mannheim aufgewachsen bin – aber das zählt alles nicht, um als vollwertiges Mitglied der deutschen Gesellschaft zu gelten. Ich unterstelle gar keine Absicht, aber ich bin eben nicht jemand, der seinen deutschen Stammbaum fünfhundert Jahre zurückverfolgen kann. Das kriege ich auch zu spüren, gar nicht unbedingt böse gemeint.
RAHEL JOHANNA JANKOWSKI: Man wird gefragt: Woher kommst du eigentlich? Es ist dieses „eigentlich“!
EMRE AKSIZOGLU: Genau. Da sage ich immer: aus Mannheim. Aber es ist schlimm, dass ich darüber nachdenken muss, ob mein Name für mich ein Hindernis ist in der beruflichen Gleichstellung. Im Theater geht es ja noch, aber viel schwieriger ist es, auf dem Filmmarkt überhaupt Fuß zu fassen, eben nicht mit den Migrantenrollen, mit den Kanaken-Rollen. Ich habe keinen Akzent und rein optisch könnte ich auch etwas anderes spielen, aber es findet nicht statt, einfach aufgrund des Namens.
Über die „Kanaken“-Rollen, die der Betrieb Ihnen zudenkt, wird auch am Ende von „Verrücktes Blut“ gespottet. Tamer Arslan, was für Rollen bekommen Sie, wenn Sie in Fernsehserien wie „KDD“ mitgespielt haben?
TAMER ARSLAN: Naja, eigentlich auch: den Kanaken. Aber vielleicht liegt das an meiner Aussprache oder meinem Aussehen. Ich könnte niemals einen Hans oder Helmut spielen. Ehrlich gesagt - ich mag auch mehr, was in Richtung türkisch geht. Da bin ich mit mehr Energie dabei. Wenn Emre jetzt sagt, ich will auch mal den Hans spielen, dann gönne ich ihm das. Aber ich möchte es nicht so gerne. Weil es nichts mit mir zu tun hat.
Wenn Sie Fußballer wären, würden Sie dann mit einem Bein für die türkische Nationalmannschaft, mit dem anderen für die deutsche spielen?
TAMER ARSLAN: Ich würde für die deutsche Mannschaft spielen, da gibt’s mehr Erfolg und Geld! (Gelächter) Ich meine aber, wie soll ich mich denn selber als Deutschen akzeptieren, wenn die Gesellschaft mit dem Finger auf mich zeigt und sagt: Da ist der Türke. Seitdem ich auf der Welt bin, habe ich das Gefühl, ich bin ein Außenseiter. Ich bin nicht blond, ich trinke meinen Kaffee anders, ich pass’ nicht in deren Vorstellungen.
Der Regisseur Tamer Yigit fragte kürzlich, wann wohl der Karl aus Schillers „Räubern“ im deutschen Stadttheater mit einem Türken, einem Türkisch-Deutschen besetzt werden kann, ohne dass daraus gleich die „postmigrantische“ Lesart wird. Wann glauben Sie, ist es so weit?
EMRE AKSIZOGLU: Wenn es Stücke wie „Verrücktes Blut“ nicht mehr braucht. Dann können wir Karl Moor spielen oder Nora die Amalia. Ohne einen Funken von Andersartigkeit.
Alle Vorstellungen von "Verrücktes Blut" im Ballhaus Naunystraße sind bereits ausverkauft. Am 12. Mai läuft bei ZDF.kultur eine TV-Aufzeichnung um 22.20 und am 13. Mai um 19 Uhr gibt es die Aufzeichnung auf der Großbildleinwand des Sony Center am Potsdamer Platz zu sehen. Der Eintritt ist frei.
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