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Kultur: „Meine Toten leben weiter“

Haruki Murakami über Terroristen, parallele Welten und das Japanische in seinen globalen Erfolgs-Romanen

Herr Murakami, Sie sind vor sieben Jahren, nach dem Erdbeben von Kobe und dem Giftgasanschlag auf die Tokyoter U-Bahn durch Mitglieder der Aum-Sekte, aus dem amerikanischen Exil nach Japan zurückgekehrt. Was von dem, wovor Sie geflohen waren, hat sich in der Zwischenzeit verändert?

Als ich wegging, boomte die Wirtschaft gerade. Sie erhitzte sich mehr und mehr, und ich konnte all das, was damit verbunden war, nicht ertragen. Denn diese Entwicklung war eine Blase. Als ich nach zehn Jahren zurückkam, war sie geplatzt. Aber nicht nur das Land hatte sich verändert, sondern auch ich. Wir beide fanden eine Übereinkunft. Und wir kamen uns näher, bis zu einem gewissen Punkt. Ich bin Schriftsteller, ich gehöre keiner Firma an und keinem Büro. Wenn man unabhängig sein will und sich als Individuum begreift, ist es nicht leicht, in Japan zu leben. Deshalb war ich aus Japan geflohen. Ich wollte frei sein, frei von allem.

Sind die Voraussetzungen, in Amerika ein freies Leben zu führen, besser als in Japan?

Für mich persönlich war es sehr angenehm, in Amerika zu leben. Ich konnte anonym bleiben und war niemandem verpflichtet. Aber natürlich hat die Sache mit der Freiheit zwei Seiten. Es ist gut, frei zu sein, aber man muss eine Vorstellung davon haben, was man mit seiner Freiheit anfängt. Sonst kann es sehr einsam und gefährlich werden. Als ich Japan verließ, wollte ich auf mich allein gestellt sein. Doch als ich in Amerika angekommen war, fühlte ich mich auf einmal verloren und fragte mich: Was ist das Ziel meines Lebens?

Japan hat die Aum-Sekte hervorgebracht, Amerika den Una-Bomber. In Ihrem Buch „Untergrundkrieg", das Interviews mit Giftgasopfern und Aum-Mitgliedern versammelt, schlagen Sie selbst einen Bogen zwischen beiden Formen des Terrorismus. Es scheint in beiden Gesellschaften den Nährboden für extreme Gewalt zu geben.

Ich glaube, wir teilen überall auf der Welt einen Sinn für Verlust und Chaos. Ich war letzte Woche in New York, um mein Buch „After the Quake“ vorzustellen: Shortstories, die vom großen Erdbeben in Kobe 1995 erzählen. Viele Leser fühlen sich dem Stoff verbunden, weil sie darin die Katastrophe des 11. September erkennen.

Sehen Sie im Terrorismus der Aum-Sekte auch einen moralischen Kern?

Ein Teil ihres ursprünglichen Anliegens hat vielleicht seine Berechtigung. Aber mich interessieren nicht ihre Ziele, sondern die Haltung, mit der sie ihnen nachgehen. Und die liegt auf einer Ebene mit der islamischen Intoleranz, aber auch mit bestimmten amerikanischen Auswüchsen. Die Leute, die Aum beigetreten sind, sind zum Teil hochintelligent. Aber nachdem sie einmal diesem Kreis angehörten, gab es kein Entkommen mehr. Junge Leute, die der Vereinigung von Shoko Asahara, dem Sektenführer, beigetreten waren, wurden irgendwann zum Töten angeleitet. Sie wussten, dass Mord verwerflich ist, aber sie konnten sich nicht verweigern.

Die geistigen Werte des traditionellen Japan sind Ihnen fremd. Sie haben aber auch Schwierigkeiten mit den neuen materiellen Werten, den Statussymbolen eines westlichen Kapitalismus. Worin besteht für Sie der dritte Weg?

Wir brauchen eine neue Moral. Ich suche sie, indem ich meine Geschichten schreibe. Und nicht nur eine Moral, sondern auch ein neues System. Wir Japaner haben 50 Jahre lang geglaubt: Je mehr wir arbeiten, desto reicher werden wir und desto glücklicher sind wir am Ende. Es hat nicht funktioniert. Das alte Gesellschaftssystem ist verschwunden, und der japanische Nachkriegskapitalismus hat versagt. Die Mehrheit der japanischen Bevölkerung traut diesem System nicht mehr. Deshalb sind wir so verloren und brauchen ein neues System. Viele junge Leute heutzutage wollen gar nicht mehr reich sein. Das ist ein gutes Zeichen.

Wie haben Sie persönlich den Verlockungen des Ruhms widerstanden? Die plötzliche Prominenz, die Sie nach dem Erfolg Ihres Romans „Naokos Lächeln“ erfuhren, war ein wichtiger Grund für Ihre Japanflucht.

„Naokos Lächeln“ wurde allein in Japan zwei Millionen Mal verkauft. Das ist eine tolle Sa che. Aber an persönlichem Ruhm bin ich ein fach nicht interessiert. Natürlich sage auch ich: Das ist ein tolles Auto. Aber andere Sachen sind mir egal. Ich möchte anonym bleiben. Ich möchte auf der Straße nicht erkannt werden. Ich bin eigentlich ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ich fahre mit der U-Bahn, gehe joggen und einkaufen. Und das möchte ich gerne weiter tun. Ich trete nicht im Fernsehen auf und lasse mich nicht für Zeitschriften porträtieren.

Sie haben mit New-Age-Esoterik nichts im Sinn und halten sich für einen vernünftigen Menschen. In all Ihren Romanen aber gibt es Türen, die sich zu parallelen Universen öffnen. Daraus weht ein mal angenehmer, mal Furcht erregender Wind in unsere Wirklichkeit herüber. In Ihrem gerade auf Deutsch erschienenen Roman „Sputnik Sweetheart“ begeben sich die beiden weiblichen Hauptfiguren sogar ganz explizit auf „die andere Seite“. Was interessiert Sie daran?

Ich persönlich halte mich für einen geistig ausgesprochen gesunden Menschen. Aber wenn ich Geschichten schreibe, schaue ich in mich hinein, und die Welt erscheint mir verrückt und seltsam. Nach japanischer Vorstellung gibt es keine einfache Aufspaltung in Diesseits und Jenseits. Japaner stellen sich vor, wie unmittelbar neben der ersten Wirklichkeit eine oder mehrere andere Wirklichkeiten existieren.

Heißt das, dass westliche Leser, denen Ihre Bücher auch durch die Vielzahl der popkulturellen Bezüge unmittelbar verständlich erscheinen, das Japanische an Ihrer Literatur unterschätzen?

In „Naokos Lächeln“ habe ich so viele Menschen sterben lassen, dass mich Kritiker fragten, warum ich so viele Leute umbringe. Wenn jemand stirbt, den ich geliebt habe, heißt das für mich nicht, dass er verschwindet. Ich habe das Gefühl, dass er neben mir weiterexistiert – wenn auch in anderer Form. Die Lebenden und die Toten stehen Rücken an Rücken, und wir tauschen unsere Wertschätzung aus. Westliche Leser missverstehen das sofort als Dichotomie. Eigentlich handeln alle meine Werke von der Vergänglichkeit der Welt. Ein sehr altes Thema der japanischen Literatur.

Es gibt in Ihren Romanen so etwas wie Murakami-Markenzeichen: Frauen, die spurlos verschwinden, Brunnen, geheimnisvolle Gänge, Katzen, Jazz und Spaghetti. Hatten Sie jemals Angst, Bücher nach Rezept zu schreiben?

Ja, ich habe meine Markenzeichen, auch wenn ich eine neue Geschichte erfinde. Und die unterirdische Welt ist mein tiefstes Symbol. Aber in jedem Buch, das ich schreibe, untersuche ich die Bedeutung dieser dunklen Welt ein Stückchen weiter. Und in meinem neuesten Buch „Kafka on the Shore“, der Geschichte eines 15-Jährigen, der seinem Vater davonläuft, um nach seiner Mutter zu suchen, die ihn als kleiner Junge verlassen hat, gibt es keine Löcher, keine Spaghetti und nichts Unterirdisches. Es ist ganz anders.

Sie sind jetzt 53 Jahre alt. Ihre Helden sind meist Mitte, Ende 30. Das Alter Ihrer Leserschaft liegt konstant zwischen 20 und 30. Haben Sie ein Bild von sich als 70-Jährigem?

Ich hoffe, dass ich immer noch schreibe. Deswegen treibe ich Sport, laufe, auch Marathon, und schwimme. Ohne zu schreiben, bin ich ein Nichts. Ich habe meine eigenen komplizierten Geschichten zu erzählen . Bei vielen Autoren ist es andersherum: komplizierter Stil und eine dumme Geschichte.

Was reizt Sie an den wenig stabilen Gefühlslagen Ihrer Protagonisten? Empfinden Sie emotionale Krisen als produktiv für alle Lebensalter?

Seit meiner Jugend habe ich die Welt nie als stabil empfunden. Dem bin ich in all meinen Werken nachgegangen. Durch den Gasanschlag und das Erdbeben von Kobe wurde aus meiner Vorstellung Wirklichkeit. Meine Generation gehört der 68er-Generation an. Plötzlich kam diese Bewegung zum Stillstand und wurde wie durch eine Eisdecke zugedeckt. Darunter aber sah ich das Chaos der Welt weiter. I ch weiß nicht, ob ich die jungen Leute heute wirklich verstehe.

Über viele Jahre hat die japanische Literaturkritik Sie verächtlich behandelt. Dafür sind Sie mit der treuesten Leserschaft belohnt worden, die ein japanischer Nachkriegsautor je bekommen hat. Welches Ihrer Bücher schätzen Sie selbst am meisten?

Mein bisher bestes Buch ist, wie ich glaube, „Kafka on the Shore“. Und meine Leser haben darauf gewartet. Es hat sich in den drei Wochen, in denen es auf dem Markt ist, schon mehr als 300000 Mal verkauft. Aber auch die Kritik ändert sich. Der Wind dreht sich. Und die konservativen Torwächter verschwinden nach und nach. Aber wie ich sagte: Nichts ist stabil und verlässlich. Also kämpfe ich weiter gegen die Altvorderen, und ich gewinne an Boden.

Sie haben Berlin zuletzt vor 19 Jahren besucht. Woran erinnern Sie sich?

Berlin war für mich damals eine Art Wunderland. Ich habe sogar ein kleines Stück mit dem Titel "Drei Fantasien von Deutschland" darüber geschrieben. Als ich jetzt durch den Berliner Osten spaziert bin, war ich überrascht, wie sehr sich Berlin seitdem gewandelt hat. Übrigens auch beim Essen: Es ist viel, viel besser geworden.

Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.

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