Freie Orchester in Deutschland: Meine kleine Nachtmusik!
Gegen das Zweiklassensystem der Klassik: Wie die freien Ensembles und Orchester in Deutschland um ihre Zukunft kämpfen.
Die großen Orchester spielen jetzt das Repertoire der kleinen. Weil coronabedingt auf der Bühne kein Platz mehr für die gewohnte Frau- und Mannschaftsstärke ist. Zwischen den Streichern, die sonst dicht auf dicht sitzen, muss ein Abstand von 1,5 Metern herrschen, zwischen den Bläsern sind es sogar mindestens zwei Meter, wegen der stärkeren Aerosolentwicklung.
Viele Dirigenten finden das aufregend. Weil die Pandemie sie zum inhaltlichen Umdenken zwingt. Mal nicht die Riesen-Partituren von Gustav Mahler, Anton Bruckner und Richard Strauss zu interpretieren, die sonst ständig auf dem Programm stehen, sondern bescheidene Besetzungen zu wählen, Werke der Wiener Klassik oder von Komponisten der klassischen Moderne, die der spätromantischen Überwältigungsästhetik kritisch gegenüber standen, vielleicht sogar aus dem Barock.
Woran diese Maestri nicht denken: Sie machen damit jenen Ensembles Konkurrenz, denen es gerade besonders schlecht geht. Allen privatwirtschaftlich organisieren Orchestern nämlich, die durch Corona um ihre Existenzgrundlage gebracht wurden. Unter dem Namen „Freo“ (Freie Ensembles und Orchester) haben sie sich 2016 zusammengeschlossen, um ihre Interessen zu vertreten.
Berühmte Namen gehören dazu wie die Akademie für Alte Musik Berlin, das Freiburger Barockorchester, das Ensemble Modern, die Kammerakademie Potsdam oder auch das Mahler Chamber Orchestra. Sie alle werden gar nicht oder nur teilweise von der öffentlichen Hand unterstützt und sind darum dringend auf die Einnahmen aus dem Kartenverkauf angewiesen. Doch die bleiben seit Mitte März aus.
Klassik nach Corona-Regeln muss man sich leisten können
Auch fest angestellte Musikerinnen und Musiker schmerzt es, wenn sie in einen halbleeren Saal schauen - doch der Auslastungsgrad ändert nichts an ihrem Einkommen. Jetzt können sie in einigen Bundesländern wieder vor Publikum in geschlossenen Räumen spielen. Und sie tun das, obwohl wegen der Abstandregeln nur 25 Prozent der Sitzplätze verkauft werden dürfen. Die freien Orchester dagegen machen es nicht – aus dem schlichten Grund, weil sie es sich finanziell nicht leisten können.
Die wenigsten Besucher interessieren sich für die Umstände, unter denen die Interpretationen zustande kommen. Dass in einem Teilbereich der weltweit bewunderten deutschen Orchesterlandschaft unter prekären Bedingungen gearbeitet wird, war jenseits der Fachkreise darum weitgehend unbekannt. Bis der Lockdown kam. „Die Krise zeigt wie ein Kontrastmittel, wo die Probleme liegen“, sagt Alexander Hollensteiner, der Intendant der Kammerakademie Potsdam, im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Seine Musikerinnen und Musiker treten zwar die ganze Saison über in der brandenburgischen Landeshauptstadt auf sowie bei nationalen und internationalen Gastspielen, doch bezahlt werden sie nur auf Projektbasis.
Die Verdienste der Freien sind unbestritten
Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat schnell reagiert und fünf Millionen Euro an die 25 wichtigsten freien Orchester des Landes ausgeschüttet. Es sind Gelder aus einem Förderprogramm, das in normalen Zeiten für städtische Ensembles gedacht ist, damit diese Sonderprojekte realisieren können. Das hilft 2020 über die größte Not hinweg, für die Zukunft aber muss grundsätzlich über eine Neustrukturierung der staatlichen Förderung nachgedacht werden, fordern die „Freo“-Mitglieder.
Die Verdienste der freien Orchester sind unbestritten. Viele von ihnen wurden einst aus Opposition gegen die Routine im klassischen Mainstream gegründet. Ihr Ziel war es, barocke Musik oder auch Zeitgenössisches intensiver, leidenschaftlicher, mit tiefer gehender Kenntnis zu spielen als die Etablierten. Das aber hat wiederum die Stadt- und Staatsorchester herausgefordert und dazu gebracht, flexibler, ästhetisch offener zu werden.
Bildlich gesprochen könnte man fordern, dass alle Akteure, die derzeit mit goldenen Löffeln essen, aus solidarischen Gründen nun auf Silberbesteck umstellen, damit jene, die gerade nichts zu beißen haben, nicht verhungern. So leicht aber ist das in der Praxis nicht. Weil Kultur nun einmal Ländersache ist und es darum keinen zentralen Geldgeber gibt. Stattdessen existieren zahllose Entscheidungsträger in den Städten und Kommunen.
Gerade hat Bremen ein Förderprogramm für junge Künstlerinnen und Künstler beschlossen, die sich zu freien Ensembles zusammenschließen wollen. 75 000 Euro für die ersten drei Jahre zahlt die Hansestadt den Existenzgründern. Aber auch für die bereits bestehenden, international bekannten freien Orchester müssen jetzt Maßnahmen ergriffen werden.
Die freien Orchester wollen mitreden
Dazu sind vergleichsweise geringe Summen nötig. Denn die Freien sind viel schlanker organisiert als die staatlichen, der Eigenfinanzierungsgrad ist deutlich höher. Ihnen würde es zumeist schon reichen, wenn die Arbeit ihres jeweiligen Organisationsteams durch eine strukturelle Förderung gesichert würde.
Alexander Hollensteiner, der Intendant der Kammerakademie Potsdam, wertet es als gutes Zeichen, dass ein „Freo“- Vertreter jüngst zur Anhörung im Kulturausschuss des Bundestages eingeladen war. Denn wenn es darum geht, wie das mit einer Milliarde Euro ausgestattete Programm von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Stärkung der kulturellen Infrastruktur verwendet wird, dann wollen die freien Orchester direkt an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Und nicht nur über den Dachverband des Deutschen Musikrates mitreden.
Sie wissen nun einmal am besten, wie es um die prekären Arbeits- und Lebensrealitäten ihrer Musikerinnen und Musiker bestellt ist. Und was in ihrem Bereich für einen wirklichen „Neustart Kultur“ unabdingbar ist.