Neue Medien: Mein öffentliches Leben
Der deutsche Online-Comic boomt wie nie zuvor. Autobiographische Themen stehen hoch im Kurs. Wir zeigen, wo es die besten Strips und Blogs im Netz zu entdecken gibt.
Mal geht es um Leben und Tod, mal nur um die Abhängigkeit von Suchtmitteln wie Facebook oder Nutella. Manche Autoren arbeiten Kindheitstraumata auf, andere den alltäglichen Kampf als freischaffender Künstler. Lust und Liebe werden ebenso reflektiert wie die Herausforderungen des kinderlosen Älterwerdens oder des Familienlebens. Mehrere Dutzend deutschsprachige Comiczeichner lassen die Öffentlichkeit regelmäßig per Internet-Tagebuch, Comic-Blog genannt, an ihrem Leben oder ihren Gedanken teilhaben – und es werden immer mehr.
Gut 200 aktuelle Titel listet alleine das Webcomic-Verzeichnis auf, der wohl beste und umfassendste Katalog deutschsprachiger Comic-Blogs und anderer Online-Comics. Die meisten von ihnen sind allerdings noch jung und erscheinen seit maximal fünf bis sechs Jahren: Der in Ländern wie den USA schon länger verbreitete Trend erreichte Deutschland mit deutlicher Verzögerung.
Die meisten deutschen Comic-Blogger erzählen in kurzen gezeichneten Episoden, deren Struktur an klassische Zeitungsstrips angelehnt ist, von ihren alltäglichen Erlebnissen. Das ist mal ernsthaft reflektierend, mal voller Selbstironie - oder auch mal mit fantastischen Elementen angereichert wie bei der Kölner Zeichnerin Sarah Burrini. Die berichtet in ihrem mehrfach ausgezeichneten Online-Strip „Das Leben ist kein Ponyhof“ ganz selbstverständlich von den absurd-alltäglichen Erlebnissen einer Wohngemeinschaft, die im Comic aus dem Alter Ego der Zeichnerin sowie einem zahmen Elefanten, einem sprechenden Pilz und einem zum Sadomasochismus neigenden Pony besteht. Auch der Berliner Zeichner Flix, der mit erfolgreichen Graphic Novels wie „Held“ und „Sag was“ zu den Pionieren des autobiografischen Comics in Deutschland zählt, reflektiert auf seinem Blog „Heldentage“ alltägliche Erlebnisse in semi-autobiografischer Form, in denen neben authentischen Begebenheiten immer wieder auch Dialoge mit fantastischen Figuren, Monstern oder auch mal mit Gott eine Rolle spielen.
Auszeichnungen und Sammelbände
Zunehmend werden die deutschen Comic-Blogs auch jenseits der eingeschworenen Online-Fangemeinde wahrgenommen. Dazu trägt der Umstand bei, dass etliche digitale Strips inzwischen auch in analoger Form als Buch erschienen sind. Das ist bei vielen Bloggern eine wichtige Zusatzmotivation: Sie machen sich im Internet einen Namen – und so Verlage auf sich aufmerksam. Neben Büchern mit den gesammelten „Heldentage“-Strips von Flix und Sarah Burrinis „Das Leben ist kein Ponyhof“ hat dies unter anderem auch Leo Leowald mit seinen philosophisch-humoristischen Familienepisoden unter dem Titel „Zwarwald“ geschafft, die in Büchern wie zuletzt „Stopptanz“ auch dem weniger Internet-affinen Publikum zugänglich gemacht wurden. Die bislang umfassendste Sammlung von Auszügen autobiografischer deutscher Comicblogs in Buchform ist 2010 in der Comicanthologie-Reihe „Panik Elektro“ unter dem passenden Titel „Seelenstrips“ erschienen. Dessen Herausgeber Ulf Salzmann und Johannes Kretzschmar gehören mit ihren jeweiligen Blogs ebenfalls zu den Wegbereitern des noch jungen Genres in der Bundesrepublik.
Der wachsenden Aufmerksamkeit für Online-Comics als eigenständige Ausdrucksform tragen mittlerweile auch mehrere Comic-Auszeichnungen Rechnung, die in der Vergangenheit nur gedruckt vorliegende Arbeiten honorierten, sich inzwischen aber auch gegenüber der digitalen Welt geöffnet haben. So wird der Comicpreis der Frankfurter Buchmesse, der „Sondermann“, inzwischen jährlich auch für Online-Veröffentlichungen vergeben, zuletzt bekam die Action-Krimi-Manga-Parodie „Entoman“ von David Füleki im Herbst 2011 den Web-Sondermann, der autobiografische Blog „Gestern noch“ von Asja Wiegand wurde als Newcomer des Jahres prämiert. Die Interessengemeinschaft Comic (Icom) zeichnete zuletzt die Website www.zampano-online.com des Schweizer Zeichners David Boller mit dem Independent Comic Preis aus – hier veröffentlicht Boller autobiografische wie auch fiktive Erzählungen aus seinem eigenen Atelier sowie Arbeiten anderer Zeichner, für die die Online-Publikation in der Regel die Vorstufe zur gedruckten Veröffentlichung ist.
Ein Forum für eine längere, als Graphic Novel angelegte Erzählung ist auch die Website www.fahrradmod.de des Zeichners Tobias Dahmen, die es beim Web-Sondermann immerhin bis ins Finale schaffte. Und der 2011 neu geschaffene Kurt-Schalker-Preis – eine ironische Anspielung auf den amerikanischen Comicblog-Pionier James Kochalka, dessen Name in Deutschland erst langsam bekannt wird – wurde für die in mehrere Richtungen lesbaren Strips von Wolfgang Büchs alias Digirev vergeben.
Auf der nächsten Seite lesen Sie, welche Graphic Novels einst als Web-Comic anfingen und welche Cartoons im Internet besonders beliebt sind.
Experimentelle, kunstvolle und oft auch als längere Erzählungen angelegte Beiträge versammelt auch die Seite electrocomics.de, die von der vielfach ausgezeichneten Berliner Comicautorin Ulli Lust betrieben wird. Hier finden sich immer wieder Beiträge deutschsprachiger Zeichner, die als Bausteine von Graphic Novels zu verstehen sind – so veröffentlichte Lust hier die ersten Kapitel zu ihrem 2010 erschienenen und mit Preisen und Kritikerlob überhäuften Bestseller „Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens“. Ein weiteres wichtiges und bemerkenswert vielseitiges Forum für Web-Comics, Mangas und Cartoons deutscher Zeichner ist die Seite www.mycomics.de, die der Comicverlag Panini ins Leben gerufen hat.
Besonders erfolgreich sind im Netz Veröffentlichungen deutscher Zeichner, die formal eigentlich keine Comics sind, aber doch oft dazugerechnet werden: Cartoons. Zu den Vorreitern, deren Werke sowohl online als auch in gedruckter Form besonders viele Leser erreichen, gehören Joscha Sauer mit Nichtlustig.de und Ralph Ruthe mit Ruthe.de.
Das Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft
In zwei Punkten steht der deutsche Online-Comic allerdings noch ganz am Anfang. Die potenziell grenzenlosen künstlerischen Möglichkeiten, die im Internet durch eine zumindest theoretisch unendlich große Leinwand gegeben sind, werden bislang von Zeichnern kaum genutzt. Auch interaktive oder multimediale Elemente werden, nicht zuletzt wegen des damit verbundenen Aufwands und der Kosten, bislang kaum eingesetzt. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Fantasy-Erzählung „Wormworld-Saga“ von Daniel Lieske. Der Zeichner hat sich weitgehend aus den formalen Grenzen befreit, die Strip-Formate und das immer noch verbreitete Denken in künftigen Buchseiten den meisten Zeichnern auferlegen: Er hat seine Geschichte so gezeichnet, dass man sich wie auf einer endlosen Leinwand hindurchscrollen kann.
Eine weitere Form des Online-Comics, die vor allem im englischsprachigen Raum rapide an Bedeutung gewinnt, steht in Deutschland ebenfalls erst am Anfang: Die Veröffentlichung von Strips und längeren Erzählungen in Form von Apps für Smartphones oder Tablet-Computer wie das iPad. Hier beschränkt sich das deutschsprachige Angebot bislang noch fast ausschließlich auf Comics, die bereits als Bücher oder Hefte existieren und lediglich in einer umgearbeiteten und manchmal um Geräusche, Musik oder andere Effekte erweiterten Version für das neue Medium aufbereitet werden. Zu nennen wären hier für jüngere Leser zum Beispiel die in Berlin produzierten „Mosaik“-Comics, für Leser allen Alters ist das aktuelle Album der einstigen Polit-Comicpioniere Gerhard Seyfried und Ziska, „Kraft durch Freunde“, ein Beispiel für diesen noch ganz am Anfang stehenden Trend.
Dieser Artikel erschien zuerst auf der Website des Goethe-Instituts „Deutschsprachige Comics“ , wo sich auch viele weitere Analysen und Porträts zur deutschen Comic-Szene finden.
Lars von Törne
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