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Comic-Selfie. Ein Fototermin wäre für Daniela Schreiter eine Qual. Stattdessen hat sie sich selbst gemalt. Mit Antennen, wie ein Alien. So fühlte sie sich früher.
© Illustration: Daniela Schreiter

Asperger-Syndrom im Comic: Mein Leben als Alien

Schon das Gefühl von Gras unter den Füßen ist ihr zu viel. Daniela Schreiter ist Asperger-Autistin. Ihr Leben verarbeitet sie in Comicbüchern. Mit großem Erfolg – doch der bringt sie an ihre Grenzen.

Vor anderthalb Jahren erlebte Daniela Schreiter, wovon viele Autoren träumen. Sie war eingeladen auf der Leipziger Buchmesse, saß auf einer Bühne, beantwortete Fragen, signierte ihr Buch. Drei Stunden war sie dort – und brauchte danach Tage, um sich zu erholen. Schon auf der Bühne hatten ihre Hände so stark gezittert, dass sie befürchtete, das Buch würde ihr herunterfallen. Wieder zu Hause in Berlin verlor sie noch mehr die Körperkontrolle. Immer wieder schlug sie sich, ohne es zu wollen, gegen Brust und Kopf. „Wundert euch bitte nicht, wenn ich noch eine Weile brauche, bis ich auf Mails antworte, bin noch völlig im Regenerationsmodus!“, schrieb sie drei Tage nach der Buchmesse in ihrem Blog.

Daniela Schreiter, 33, ist Asperger-Autistin. Menschen wie sie sind scheu und empfindsam und so brachten sie die Leute und der Lärm auf der Buchmesse an ihre Grenzen. Ihr Buch „Schattenspringer“, das sie in Leipzig vorstellte, handelt von ihrem Leben mit der Diagnose. Es ist eine autobiografische Graphic Novel mit fiktiven Elementen, und wurde ein Erfolg. Vier Mal musste der Verlag nachdrucken, nun ist gerade der zweite Band erschienen. Für ihn gab es schon im Vorfeld so viele Bestellungen, dass der Verlag die Auflage gleich erhöhte.

Der „Schattenspringer“ ist zu einer Art Standardwerk geworden, Betroffene verschenken ihn, Psychologen empfehlen ihn ihren Patienten gleich nach der Diagnose. Dass die Bücher so beliebt sind, liegt auch daran, dass sie jedes Klischee über Autisten wirkungsvoll widerlegen. Schreiter mischt Märchen- und Science-Fiction-Motive, mal sind ihre Zeichnungen niedlich, mal erinnern sie an „Hägar, der Schreckliche“, aber immer zeigt sich ihr Sinn für Komik. In einer Szene, in der Schreiter die Reizempfindlichkeit von Autisten erklärt, sitzt ihr gezeichnetes Alter Ego mit Sonnenbrille in einem Café. Warum sie die aufhabe, fragt ihr Begleiter. „Wie bitte? Ich habe Ohropax drin“, antwortet sie. Trotz der Leichtigkeit, mit der sie das Problem darstellt, waren die Bücher für Daniela Schreiter harte Arbeit.

Ein Sommertag im vergangenen Jahr, der erste „Schattenspringer“-Band ist einige Monate zuvor erschienen. Daniela Schreiter sitzt in einem Café in Berlin-Schöneberg. „Was, du?“, sagen viele, wenn sie von Schreiters Diagnose hören. Sie ist kein Computernerd, hat auch keine kastenförmige Brille, sondern rote, wellige Haare und ein Lächeln, das sich immer wieder in ihr Gesicht schleicht. Doch dass sie hier einigermaßen ruhig sitzt, liegt nur daran, dass sie genau geplant hat. Alles – den Tag, die Uhrzeit, den Ort des Treffens. Weder ist es heute zu heiß noch zu kalt, es stehen keine weiteren Termine an. Das Café ist Schreiter vertraut.

Warum ihr alles so schwer fällt, fand sie erst spät heraus

Comic-Selfie. Ein Fototermin wäre für Daniela Schreiter eine Qual. Stattdessen hat sie sich selbst gemalt. Mit Antennen, wie ein Alien. So fühlte sie sich früher.
Comic-Selfie. Ein Fototermin wäre für Daniela Schreiter eine Qual. Stattdessen hat sie sich selbst gemalt. Mit Antennen, wie ein Alien. So fühlte sie sich früher.
© Illustration: Daniela Schreiter

Selbst bei kleinen Handgriffen braucht sie Rituale. Zum Beispiel vorher, als sie zu Hause etwas Wasser trank. Wie immer schüttete sie das Glas erst drei Mal aus, bevor sie es schließlich an die Lippen führte. Hätte sie das nicht gemacht, wäre es ihr schwergefallen, sich danach aufs Zeichnen zu konzentrieren.

Schreiter hat einmal Jura studiert, kehrte nach dem ersten Staatsexamen aber zu der stillen Beschäftigung ihrer Kinder- und Jugendjahre zurück. Ihr Geld verdient sie mit Illustrationen und Zeichnungen und neuerdings mit ihrem Comic. An diesem Sommertag im Jahr 2014 steht bereits fest, dass es einen zweiten Band geben wird. Während es im ersten um Schreiters Kindheit geht, soll es nun von ihrer Jugend handeln. Schreiter schlägt vor, bis zum Erscheinen in Kontakt zu bleiben. Am besten per Mail, dann geht sie nach Hause. Später schreibt sie, dass sie das Treffen trotz aller Vorsichtsmaßnahmen sehr angestrengt habe.

Auf die Erklärung, warum ihr alles so schwerfällt, musste sie lange warten. In den 80ern, als Schreiter aufwuchs, war Asperger-Autismus noch weitgehend unbekannt, und so hieß es immer nur: Daniela? Die ist irgendwie „anders“. Dieses Wort und all seine Variationen – außergewöhnlich, seltsam, komisch, nicht normal, total gestört – hörte Daniela Schreiter immer wieder.

Zum Beispiel, als sie nicht mit den anderen Kindern auf den Spielplatz wollte, sondern lieber nach Hause, um zu zeichnen. Viren. Die fand sie so toll, dass sie sich ein Sammelalbum anlegte und alle möglichen Viren hineinklebte. Oder als sie auf Klassenfahrt ging. Ihre Mutter hatte ihr für die Fahrt eine Stulle eingepackt. Um in der Fremde etwas Eigenes, Vertrautes zu haben, hob Daniela Schreiter das Brot und den Käse tagelang auf.

„Die Lehrer sagten meiner Mutter nur, dass ich mich irgendwie komisch verhalten und keinen Kontakt zu den anderen Kindern suchen würde. Aber dafür hatte ich mit dem Lernstoff überhaupt keine Probleme, also beließ es meine Mutter dabei“, schreibt Schreiter in einer E-Mail.

Daniela Schreiter war 26 Jahre alt, als sie das erste Mal von Autismus hörte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon einiges an möglichen Diagnosen durch, Depression, Angst- und Panikstörung, bipolare Störung, Sozialphobie. Weil nichts davon so richtig passte, machte sich Schreiter selbst auf die Suche. Googelte Schlagworte wie Reizempfindlichkeit, Tics und Stereotypien und fand im Netz eine Beschreibung von Asperger-Autismus. „Das war, als läse ich meinen Lebenslauf.“ Eine Ärztin bestätigte ihre Vermutung. Schreiter war erleichtert. Endlich hatte ihre Andersartigkeit einen Namen. Ein Jahr später begann sie den autobiografischen Comic zu zeichnen. Zunächst als eine Art Vergangenheitsbewältigung. Dann lud sie die fertigen Seiten auf ihrer Webseite hoch. „Das war mein Outing“, sagt Daniela Schreiter.

Als Steffen Volkmer vom Panini Verlag kurz darauf im Netz surfte, auf der Suche nach Talenten, fand er Schreiters Seite. Er las die Geschichte des kleinen Mädchens, das jeder Pulli kratzt und für das schon das Gefühl von Grashalmen unter den nackten Füßen eine Überreizung der Sinne ist, und war begeistert. „Ich liebe die US-Serie ,Boston Legal’“, sagt er Monate später am Telefon. „Da gibt es auch einen Autisten, und der ist eine wunderbare Figur.“

Tatsächlich sind Autisten seit einigen Jahren sehr präsent auf dem Bildschirm. Ob in der schwedischen Krimiserie „Die Brücke“ oder in der US-Sitcom „The Big Bang Theory“. Jede Serie hat inzwischen ihren Nerd und Eigenbrötler. Dass die Figur des Autisten gesellschaftsfähig geworden ist, sehen die Betroffenen mit gemischten Gefühlen. Einerseits tut mehr Akzeptanz gut. Andererseits scheint es in Zeiten, in denen die millionenschweren Unternehmer aus dem Silicon Valley allesamt als mehr oder minder autistisch gelten, fast schick zu sein, sich selbst auch im Autismus-Spektrum zu verorten. Panini hat es jedenfalls nicht bereut, Schreiter unter Vertrag genommen zu haben. 1500 verkaufte Exemplare strebte der Verlag beim ersten Band an – schon nach einigen Wochen war die Marke erreicht.

Ihr Alter Ego hat Antennen auf dem Kopf, wie ein Alien

Comic-Selfie. Ein Fototermin wäre für Daniela Schreiter eine Qual. Stattdessen hat sie sich selbst gemalt. Mit Antennen, wie ein Alien. So fühlte sie sich früher.
Comic-Selfie. Ein Fototermin wäre für Daniela Schreiter eine Qual. Stattdessen hat sie sich selbst gemalt. Mit Antennen, wie ein Alien. So fühlte sie sich früher.
© Illustration: Daniela Schreiter

Dass es im zweiten Band um Freundschaften, Beziehungen und Liebe gehen soll, wusste Daniela Schreiter schon, als sie vor einem Jahr in ihrem Schöneberger Stamm-Café saß. Doch der Weg bis zur Fertigstellung wird lang. Erst kommt der Hochsommer, und Schreiter leidet wie immer unter den Temperaturen, auf die sich andere so freuen. Das helle Sonnenlicht und die Hitze sind unerträgliche Reize für sie. „Der Herbst ist schöner, da er die lang erwartete Erholungsphase ist. Und der Winter ist quasi die Sahnehaube“, schreibt sie in einer E-Mail.

Doch auch die kühlen Monate werden unerwartet schwierig. Im Herbst muss Daniela Schreiter wegen Wurzelbehandlungen immer wieder zum Zahnarzt. Schon die Terminvereinbarung ist eine Qual. Normalerweise telefoniert Schreiter gar nicht, und nun soll sie einen völlig Fremden anrufen? Was, wenn die Sprechstundenhilfe einen Termin vorschlägt, der ihr nicht passt? Wie reagieren, wenn sie einen kleinen Witz macht? Schreiter schließt sich stundenlang im Bad ein, um verschiedene Gesprächsverläufe einzuüben. Und dann erst die Behandlung selbst. Wie da jemand in ihrem Mund herumfuhrwerkt. „Jede Berührung ist für mich wie ein Blitz, der noch lange nachhallt“, schreibt Schreiter.

Als die Zahnarztbesuche überstanden sind, ist es Winter. Nun kommt das Schwerste. Schreiter muss aus ihrer Wohnung ausziehen. Mit einem Freund geht sie zu drei Besichtigungen. Er redet, sie schaut auf den Boden. Die neue Wohnung putzt sie eine ganze Woche lang. „Jeden Tag mehrere Stunden, bis ich das Gefühl hatte, sie ist nicht mehr fremd. Wenn ich einen Ort putze, verringert sich die Unsicherheit, da ich so Kontrolle über ihn bekomme“, schreibt sie.

Bei einem Treffen im Frühling 2015, kurz vor Abgabe des zweiten Bandes, sind die beigefarbenen Vorhänge zugezogen, „Reizabschirmung“, sagt Daniela Schreiter. Sie muss ihren Rückstand aufholen, heute morgen hat sie schon fünf Seiten geschafft. Auf einer von ihnen ist ihr Alter Ego mit Antennen auf dem Kopf zu sehen, wie ein Alien. Als solcher fühlte sich Daniela Schreiter in ihrer Jugend oft genug. Als sie anfing auszugehen, sah sie zur Vorbereitung etliche Male die Partyszene aus dem Film „Sonnenallee“. Noch heute macht sie sich mitunter Notizen, bevor sie jemanden trifft. Was er gern macht, welche Filme er in letzter Zeit gesehen hat, solche Sachen. Damit der Gesprächstoff nicht ausgeht. Worüber Daniela Schreiter selbst gern reden würde: Astronomie und Galaxien, die Konstellation von Venus und Mars neulich, die Rosetta-Mission.

Die Frage, wie man in einer Partnerschaft aufgeht, ohne sich selbst aufzugeben, ist für Autisten noch schwieriger zu beantworten als für andere Menschen. Auf der einen Seite haben sie wie alle den Wunsch nach Nähe, auf der anderen aber auch ein existenzielles Bedürfnis nach Ruhe und ihre sehr speziellen Interessen. Im zweiten „Schattenspringer“-Band sagt ein Mann zu Daniela Schreiters Alter Ego: „Wollen wir uns morgen treffen?“ und sie antwortet: „Aber wir haben uns doch heute schon gesehen.“ Ein paar Seiten später sitzt sie allein und in Rapunzelpose in einem Turm, auf dem Schoß ihr Laptop und die Haare, die aus dem Fenster hängen, so lang, dass man sich darin verstecken könnte.

Im echten Leben hat Daniela Schreiter vor Kurzem einen gefunden, der ihre Ehrlichkeit aushalten kann. Und sie versucht sich selbst ernster zu nehmen. Eine öffentliche Autogrammstunde gab es bei Erscheinen dieses Bandes zum Beispiel nicht. Stattdessen schlug sie in ihrem Blog vor, dass jeder, der Interesse an einer signierten Zeichnung hat, ihr einen frankierten Rückumschlag senden solle. Es kamen so viele Briefe, dass Daniela Schreiter den riesigen Stapel bis heute nicht abgearbeitet hat.

Das Buch "Der Schattenspringer" ist überall im Buchhandel erhältlich oder über die Website des Panini-Verlages zu bestellen

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