Kultur: Mein Gott, Maradona!
Der beste Fussballer der Welt kämpft um sein Leben, und ganz Argentinien kämpft mit ihm.
Der Mann hat ein ruhiges Händchen, das muss man ihm lassen. Obwohl er nicht geschlafen hat. Vorsichtig legt er seine Sonnenbrille ganz oben auf den Turm, den er aus einem halb vollen Bierglas, einem Wasserglas, einer Speisekarte, einem Aschenbecher, einem Schlüsselanhänger, einem Geldbeutel und einem Fischgebiss zusammengebaut hat. Er präsentiert das Gesamtkunstwerk den übrigen Gästen im Restaurant La Continental im noblen Viertel Recoleta in Buenos Aires. Stolz wie ein verspieltes Kind.
Es ist Sonntagmorgen, halb zehn. Diego Armando Maradona hat gerade gefrühstückt – ein Bier und eine Pizza. Davor hat er bis in die Morgenstunden Golf gespielt, mit einem leuchtenden Ball, danach um sieben Uhr seine 14-jährige Tochter Gianinna von der Diskothek Sunset abgeholt. Um elf Uhr will er sich das Fußballspiel der Boca Juniors ansehen. Ein ganz normaler Tag, der 18. April dieses Jahres.
Ein paar Stunden später wird der Argentinier mit lebensbedrohlichen Herz- und Lungenproblemen in die Klinik Suizo Argentina eingeliefert und in ein künstliches Koma versetzt. Als er wieder aufwacht, verlässt er auf eigenen Wunsch das Krankenhaus, weil man ihn dort auf Diät gesetzt hatte. Ein paar Tage später muss er sich wieder in ärztliche Behandlung begeben. Sein Herz kann nicht mehr. Inzwischen wurde er in eine Entzugsklinik verlegt und entmündigt, weil er, so die Begründung des Richters, nicht mehr in der Lage ist, zu beurteilen, was gut und was schlecht für ihn ist. Er beschimpft das Personal.
Draußen werden die Leute fast verrückt vor Angst. Vor der Klinik stehen ältere Frauen, die für die Genesung des 43-Jährigen jede Stunde einen Rosenkranz beten. Und Männer, die noch so jung sind, dass sie Maradona nie live spielen gesehen haben. Das Portal der Anstalt gleicht inzwischen einem Wallfahrtsort. Vom Präsidenten Nestor Kirchner bis zu Maradonas unehelichem Sohn Diego Armando Junior in Italien musste schon jeder ein Statement abgeben. Wodurch der Zusammenbruch ausgelöst wurde, ist dabei nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass Diego lebt. Denn ohne Diego ist das Leben nichts.
Wer Argentiniens Umgang mit Idolen betrachtet, kann sich ausmalen, was passieren würde, wenn Maradona die Klinik nicht mehr verlassen würde. Es gibt wohl kaum ein Land, das so von und mit Mythen lebt wie dieses. Täglich suchen bis heute viele Menschen das Grab von Evita Peron auf dem Friedhof in Recoleta auf, um mit der Ehefrau des ehemaligen Präsidenten Juan Peron, die mit 33 Jahren an Krebs gestorben ist, in Kontakt zu treten. Sie wird verehrt wie eine Heilige.
Maradona ist vorbestraft, ungebildet, herzkrank und inzwischen fast so breit wie hoch. Aber eben auch der unvergleichlichste Fußballer, den dieses Land je hatte. Es gibt kaum Argentinier – zumindest keine männlichen – die nicht bis ins kleinste Detail nacherzählen können, wie der begnadete Kicker 1986 das schönste Tor der WM-Geschichte schoss. Elf Mal berührte er mit dem linken Fuß den Ball, während er ihn an sieben Engländern vorbei ins Tor dribbelte. Wenige Tage später wurde Argentinien Weltmeister. So etwas vergessen sie hier nicht. Nie. „Für uns Argentinier kommt Maradona gleich nach Gott“, sagt der aktuelle Nationalspieler Pablo Aimar. Für viele kommt er davor.
Als Dalma Salvadora Franco in den frühen Morgenstunden des 30. Oktober 1960 mit Wehen aus dem Taxi vor der Poliklinik in Lanus steigt, sieht die junge Frau als erstes ein Mosaik in der Form eines Sterns. Ein Zeichen, denkt sie noch auf dem Weg in den Kreißsaal, das ihrem fünften Kind, ihrem ersten Sohn, ein glückliches und zufriedenes Leben bescheren wird.
In den vergangenen vier Jahren hat „Doña Tota“ ihren Diego nicht besonders oft gesehen. Verfolgt von Drogenproblemen, Alimenten- und Steuernachforderungen hatte er sich nach Kuba abgesetzt, um dort als persönlicher Freund Fidel Castros ziemlich unbehelligt zu leben. Dem Staatsgast standen auf dem Gelände der Klinik „La Padera“ zwei Villen zur Verfügung – eine für seine Familie, eine für seinen lärmenden Anhang aus Nutznießern und Verehrern.
In Paternal, einem Stadtteil von Buenos Aires, lehnt ein älterer Herr an einem Baum, die grauen Haare sind zurückgekämmt. Es ist Francisco Gervasio Cornejo, der erste, der bemerkte, dass Diego Armando Maradona etwas ganz Besonderes ist. Mit seinen roten Backen sieht er nicht aus wie ein Entdecker, eher wie ein Obstbauer. Aber er hat es gleich gespürt, an jenem Samstag im März 1969. Der kleine Goyo Carrizo hatte seinen Kumpel Diego zu einem Fußballspiel der „Cebollitas“, der Jugendmannschaft des Klubs Argentinos Juniors, mitgenommen. Cornejo, damals Trainer der Nachwuchsmannschaft, wird den ersten Eindruck nie vergessen. Die Jungs spielten, wie Jungs in dem Alter eben spielen. Sie ließen den Ball erst aufkommen, legten ihn sich zurecht und schoben ihn dann zum Mitspieler weiter. Nur der kleine Diego „konnte den Ball aus der Luft annehmen, über den Gegner heben und dann ohne Bodenberührung in die entgegengesetzte Richtung schießen“, sagt Cornejo, „mit acht Jahren.“
Am nächsten Tag sprach der Fußballlehrer bei den Eltern vor, um ihn dauerhaft für sein Team zu verpflichten. Wenig später bat er den Arzt Roberto Paladino, den kleinen Sportler mit Vitaminen und anderen Aufbaupräparaten zu versorgen. Denn: „Der Junge ist von einem anderen Planeten.“ Maradona ist trotzdem nur 1,67 Meter groß geworden. Er hat in seiner Laufbahn 695 Partien bestritten. 62 550 Minuten stand er auf dem Rasen. Er hat in dieser Zeit 353 Tore geschossen, 116 für Argentinos Juniors, 35 für Boca Juniors, 38 für Barcelona, 115 für Neapel, sieben für Sevilla und 42 für die argentinische Nationalmannschaft. Die überirdische Bewunderung hat ihn dabei immer begleitet.
„Natürlich war ich sauer“, sagt Ruben Anibal Giacobetti, weil er am 20. Oktober 1976 bei der Erstliga-Partie zwischen Argentinos Juniors und Talleres fünf Minuten vor Schluss gegen den erst 15-jährigen Debütanten Diego Armando Maradona ausgewechselt wurde. Doch knapp 30 Jahre später sieht er das anders. „Der Wechsel hat dafür gesorgt, dass ich Teil der Geschichte bin“, sagt er und blickt zufrieden an seinem edlen Anzug herunter, „schließlich wurde ich durch den besten Fußballspieler der Welt ersetzt.“
Wenn die Leute in Argentinien über Maradona reden, wirken sie wie verliebte Teenager. Mit feuchten Augen schwärmen sie von ihrem Idol. Es fällt kein kritisches Wort, obwohl er dafür oft genug Anlass geboten hätte. Maradona ist unantastbar, keiner kann sich ihm entziehen. Dabei hat er eigentlich immer nur das getan, was ihm am meisten Spaß gemacht hat. Und das, was er am besten kann: Fußball spielen. Es gibt dieses Bild von Maradona, wie er in jungen Jahren ein Tor gegen River Plate schießt und es sich nicht entgehen lässt, dem gegnerischen Torwart dabei die Zunge herauszustrecken. Oder jenes, auf dem er nach dem verlorenen WM-Endspiel 1990 gegen Deutschland zu sehen ist, wie er weinend über den Rasen schleicht. Maradona hat Fußball immer gelebt, gefühlt, genossen. Er hat nie einfach nur gespielt. Deshalb vergöttern sie ihn. Weil er ihnen so viel Freude bereitet hat. Und sich selbst auch. „Er würde all sein Geld dafür geben, noch einmal 20 zu sein“, sagt sein alter Trainer Cornejo.
Maradona ist inzwischen 43 Jahre alt, der Ball ist ein bisschen kleiner geworden, aber die Leidenschaft nicht. „Ich kann zwölf Stunden ohne Pause Golf spielen“, sagt er. „Es ist der perfekte Sport: Du spielst mit einem Ball, musst nicht rennen, kannst von Loch zu Loch fahren, und der Caddy trägt deine Tasche.“
In Villa Fiorito, einem Armenviertel etwas außerhalb von Buenos Aires, sind Golfbälle und Caddies eher eine Seltenheit. Das alte Haus mit der Nummer 523 in der Straße Azamor, an der Ecke Mario Bravo, sieht ziemlich mitgenommen aus. Die Wände sind verschimmelt, das Wellblechdach löchrig. „Drinnen hat es mehr geregnet als draußen“, hat Diego Armando Maradona einmal über die armselige Behausung gesagt. Er muss es wissen, er hat hier seine Kindheit verbracht. Als seine Eltern in den 50er Jahren aus Esquina, in der Provinz Corrientes, auf der Suche nach dem großen Glück in der argentinischen Hauptstadt ankamen, konnten sie sich nichts anderes leisten. Drei Räume hat die Herberge, in der die Maradonas mit ihren acht Kindern lebten. Eine Küche, zwei Schlafzimmer, für jeden Bewohner gab es einen halben Quadratmeter Platz.
Diego Armando Maradona hat später große Häuser bewohnt, mit vielen Zimmern, Swimmingpools und allem Zick und Zack. Er hat mit dem Fußballspielen etwa 30 Millionen Dollar verdient und dem Papst die Hand geschüttelt. Alles hat sich verändert, nur er nicht. Er ist immer noch der einfache Mann aus dem Armenviertel, der gerne spielt – mit dem Fußball und mit dem Leben. Gut, er hat sich oft mit den falschen Freunden umgeben. Doch das wäre ihm wahrscheinlich auch so passiert, ohne all die Erfolge. Zum Beispiel mit Mauricio Vergana, seinem kolumbianischen „Diätberater“, der vor etwas mehr als einem Jahr auf einem Flughafen festgenommen wurde, weil er zwei Kilo Kokain dabei hatte. Oder seinem Kumpel Carlos Ferro Viera, dem Drogenhandel nachgesagt wurde, der aber stets dementierte, dass er Maradona mit Rauschmitteln versorge: „Er ist alt genug, sie sich selber zu kaufen.“
Maradona hat seine Jugendliebe Claudia Rosana Villafañe geheiratet, als er schon berühmt war, ein Mädchen aus seinem Viertel, die Tochter eines Taxifahrers. Vor einem Jahr haben sich die beiden nach 14 Jahren Ehe zwar scheiden lassen, doch die Mutter seiner beiden Töchter wacht nun an seinem Krankenbett. Als er schon ein Star war, ist zu einem mittelmäßigen Verein nach Neapel gegangen und nicht ins schicke Mailand. Er wollte ein Vorbild für die armen Kinder im Süden Italiens sein, weil sie „das sind, was ich in Buenos Aires war“. Der kleine Mann hat ein großes Herz. So etwas gefällt den Leuten. Was passiert, wenn Maradona in eine Bar kommt und was, wenn Franz Beckenbauer kommt, fragen sie in Argentinien gerne. „Diego will jeder einladen, bei Beckenbauer hoffen sie, dass er sie einlädt.“
Es sind die anderen, die aus Maradona immer mehr machen wollten, als er eigentlich ist. Einen Helden, einen Gott, einen Lebensretter. „Argentinien ist Maradona“, sagt Horacio Pagani, Kolumnist der Tageszeitung „Clarin“. Ein soziales Phänomen, einer der es von ganz unten nach ganz oben geschafft hat. Jeder will wissen, was er sagt, macht und denkt. Über Mode, Frauen, Autos und Politik. „Die Omnipotenz von Maradona wuchs immer weiter und er fand kein Gegenmittel“, sagt Pagani, „deshalb hat er sich irgendwann den Drogen genähert. In Wirklichkeit ist Maradona nur Fußball.“
Was Maradona in seiner Heimat auszuhalten hat, merkt man am deutlichsten, wenn er nicht da ist. In der Bombonera, der Pralinenschachtel, dem Stadion von Boca Juniors, singen die Fans gerne eine Halbzeit lang seinen Namen und blicken dabei verträumt auf seinen leeren Balkon, während sich ihre Mannschaft auf dem Rasen abrackert. Die Schuhe, mit denen Maradona das Tor gegen England schoss, touren gerade im Rahmen einer Wanderausstellung mit dem Namen „M10“ mit insgesamt 400 Objekten durch Argentinien. Sein Leben wird derzeit als Musical aufgeführt. Titel des Spektakels: „Nummer zehn – zwischen Himmel und Hölle“. Die „Iglesia Maradoniana“, die Kirche Maradonas, zählt inzwischen etwa 20 000 Gläubige, die ihre Zeitrechung mit dem Geburtstag ihres Heilands begonnen haben und deshalb am 30. Oktober jeden Jahres ein großes Fest feiern. In Neapel ist Maradona vor Weihnachten fester Bestandteil der Krippe.
Gustavo Sierra, Reporter der Tageszeitung „Clarin“ wurde im Irak-Krieg einmal von bewaffneten Irakern bedroht. „Sie fragten, wo wir herkämen, ich antwortete: Argentinien. Und dann, ganz plötzlich, sagten sie die magischen Worte: Argentinien? Maradona! Ihre Stimmung schlug um, sie begannen zu lachen und ließen uns gehen, ohne einen Kratzer.“ So entstehen Mythen.
Manchmal ist Maradona die geballte Zuneigung ein bisschen zu viel geworden. Als eine Horde Journalisten 1994 sein Haus belagerte, schoss er mit einem Luftgewehr auf sie. Ein Pressevertreter klagt zwar immer noch auf das ausstehende Schmerzensgeld, doch der Rest des Landes hat ihm diese Entgleisung längst verziehen. Wie sie ihm eben alles verzeihen. Die Drogenprobleme, die er vor vier Jahren auf Kuba behandeln ließ und die er zurzeit erneut in den Griff zu bekommen versucht? Geschenkt. Dass er die Vaterschaft einer unehelichen Tochter abstritt, bis ihn der DNA-Test zweifelsfrei überführte? So etwas kommt in den besten Familien vor. Steuerhinterziehung? Hat nicht jeder schon mal darüber nachgedacht? „Die Welt zeigte sich Maradona als das, was sie war und ist: Geld und Manipulation“, hat Deutschlands berühmtester Fußballer Franz Beckenbauer einmal gesagt. „Ich glaube, wir sind alle ein bisschen verantwortlich für das, was mit ihm passiert ist.“
Als Diego Armando Maradona drei Jahre alt war, schenkte ihm sein Cousin Beto Zarate seinen ersten Lederball. Jeden Morgen, wenn der Vater Don Diego um vier Uhr das klapprige Haus des Armenviertels verließ, um zur Arbeit zu gehen, beugte er sich über seinen kleinen Sohn. Der schlief, den Ball fest umklammert, als ahne er schon, dass es ohne die Kugel nicht so einfach werden würde.
Jetzt liegt er in einer Klinik und kämpft um eine Chance, es noch einmal mit dem Leben probieren zu dürfen. Draußen hängt ein Plakat: „Gott, du hast dir schon Jesus genommen, nimm uns nicht auch noch Maradona.“
Nina Klöckner
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