Potsdamer Winteroper: "Cain und Abel": Mein Bruder, das Luder
Der Mensch und das Böse: Die Potsdamer Winteroper zeigt Scarlattis „Cain und Abel“ in der Friedenskirche.
Bei Familie Adam hängt der Haussegen schief. Die Söhne balgen sich, Papa und Mutter Eva schauen hilflos zu. Streitpunkt: Wie opfert man am besten Gott? Das Ende kennen wir: Aus unerfindlichem Grund nimmt der Herr Abels tierisches Opfer an, während er Cains Feldfrüchte verschmäht – was den Erstgeborenen prompt dazu veranlasst, den Bruder zu erschlagen. Der erste Mord.
Alessandro Scarlatti hat die alttestamentarische Erzählung 1707 in Venedig auf ein Libretto von Antonio Ottoboni vertont. Jetzt kann man das furios instrumentierte Stück bei der Potsdamer Winteroper sehen, die in der Friedenskirche gastiert. Regisseurin Andrea Moses hat sich gerade an der Berliner Staatsoper mit einem Füllhorn halbherziger Witzchen durch Wagners „Meistersinger“ gemogelt. Hier zeigt sie eine klarer gedachte, konzentriertere Arbeit – und nur ein paar Späßchen. Akzente setzen Personenführung und Kostüme (Tabea Braun), auf Kulissen verzichtet Moses klugerweise gänzlich. Gegen die Sogwirkung des hybriden Kirchenraums, die ionischen und korinthischen Säulen, romanischen Fensterbögen und das byzantinische Mosaik in der Apsis wäre kein Ankommen. Oper in der Kirche ist auch so immer reizvoll, umso mehr bei diesem Stück. Weil sich zwei große Welterklärungsversuche, Religion und Kunst, mit zarten Fingern berühren, weil sich Querverstrebungen ergeben.
Wenig zart singt Fernando Guimaraes als Adam. Er presst, plärrt, zwingt Töne raus, hat seine Dynamik nicht unter Kontrolle. Und seine Söhne auch nicht. Talia Or als liebende Eva hingegen betört mit extrem sauber intoniertem, innig strömendem Sopran. Unter der Leitung von Bernhard Forck stürzt sich die Kammerakademie Potsdam fiebrig und aufwühlend in die barocke Partitur. Nur tiefe Töne, Theorbe und Celli, erklingen, wenn Cain auftritt. Der markante Alt von Bettina Ranch unterscheidet sich deutlich von den hellen Klängen der übrigen Familienmitglieder. Stets kontrolliert, sich selbst beobachtend singt sie den Bösewicht, als sei’s eine Studie in barocker Affektenlehre. Welten liegen zwischen diesem Darth-Vader-Cain und dem naiv-mädchenhaften Abel von Marie Smolka.
Eine zentrale Frage drängt sich geradezu auf: Warum nimmt Gott Cains Opfer nicht an? Der Vorgang ist ja viel mehr als eine deutliche Absage an vegetarische Ernährung von höchster Stelle. Das Alte Testament bleibt pragmatisch: Cain hätte die Rituale nicht eingehalten. Das Neue Testament, im Hebräerbrief, gräbt tiefer in der Psyche: Er war nicht fromm, als er opferte. Das Böse ist menschlicher Natur.
Und so weitet sich der von Andrea Moses als Familienklamotte angelegte Beginn, bei der Adam wie ein biblischer Al Bundy dem Treiben zuguckt, ins Existenzielle. Ein dissonanter Orgelakkord, Gott (Countertenor Benno Schachtner) höchstselbst tritt auf. Und Luzifer (Neal Davies im Yeti-Zottel-Look). Er verführt Cain, wie er es mit seiner Mutter gemacht hat, kitzelt den in ihm (sprich: im Menschen an sich) angelegten Neidkern hervor, stachelt zum Mord an. Mit einem wunderbaren Duett der beiden Brüder baut Scarlatti Spannung auf, ein Ritardando, bevor das Messer blitzt und das Blut spritzt.
Wie kriegt man nach so einem Drama noch ein lieto fine, einen glücklichen Ausgang hin? Scarlatti schafft’s, indem er die alttestamentarisch-jüdische Version des Stoffs christlich umdeutet: Neue Nachkommen sollen Adam und Eva haben, auf dass in dieser Reihe dann der Erlöser geboren werde. Das Ende der Geschichte, es ist ein Anfang.
wieder am 26., 27. und 28. November, 19 Uhr, Friedenskirche Potsdam