Nachruf auf "Talk Talk"-Sänger: Mark Hollis, der Gärtner von Eden
Er schrieb Hits und verachtete die Musikindustrie. Mit seiner Band Talk Talk überschritt Mark Hollis alle Grenzen. Nun ist er mit 64 Jahren gestorben.
Es dürfte einmalig in der Popgeschichte sein, dass eine Band sich auf dem Gipfel ihres Ruhms entscheidet, alles aufs Spiel zu setzen. Mit nur sechs Songs zerstören Talk Talk 1988 ihre Karriere. Und sie zerstreiten sich nicht mal darüber. Sie wollen es so, folgen ihrem Sänger und Songschreiber Mark Hollis in eine neue musikalische Dimension, für die es noch kein Vokabular gab.
Dieser Verrat war keine Kleinigkeit. Talk Talk wussten, dass sie ihrem Publikum eine Welt entzogen, die es liebte. Eine Welt des "schönen Leidens", zerbrechlich und grandios zugleich. Nach dem Album „Spirit of Eden“ hatte die britische Band alles gesagt. Weiter konnte sie sich nicht entfernen von den Erwartungen an eine Popband, die den Sound der 80er mit Synthie-Hits wie „Such A Shame“, „It’s My Life“ und „Life’s What You Make It“ geprägt hatte. Aus einer Band mit Hits war eine Band für die Ewigkeit geworden.
Natürlich konnte die Plattenfirma diesen mutwilligen Akt destruktiver Kreativität nicht ignorieren. Als sie 1991 entnervt von Hollis‘ Uneinsichtigkeit in ökonomische Zwänge die Reißleine zog, machte der mit seinem Langzeitgefährten Tim Friese-Green noch ein letztes Talk-Talk-Album namens „Laughing Stock“ und löste die Band auf.
Seither umgibt sie der Nimbus des Genialen, an dem sich immer wieder Musiker-Generationen orientiert haben. Schon, das Spätwerk von Talk Talk für sich zu entdecken, kam vielen wie eine Offenbarung vor, weil sie zuvor so gut wie gar nichts von der vierköpfigen Band und ihren sensationellen Platten mitbekommen hatten. Beide verkauften sich schlecht. „Ich konnte nicht glauben, dass ich sie verpasst hatte“, sagt etwa Paul Marshall dem „Guardian“, als 2011 eine Tribute-Platte mit Neuinterpretationen erschien.
Je mehr Talk Talk ihr Publikum verstörten, es überforderten und schließlich verloren, desto besser wurde ihre Musik – ein undurchdringliches Dickicht aus Jazz, Pop, Post-Rock und Neuer Musik, aus sakralen, poetischen und profanen Elementen, spannungsgeladen bis in die letzte Faser. Ein mystisches Universum aus leerem Raum und Gravitation.
Dass die Musik dieser Band immer mehr Tiefe erlangte, je mehr sich das Jahrzehnt mit Oberflächlichkeit begnügte, hatte ganz wesentlich mit Mark Hollis zu tun, ihrem Mastermind. Einerseits, weil er sich hartnäckig weigerte, seine Songs zu erklären. Andererseits schlug er als Sänger Pathos-Bögen voller Verzweiflung, die von der Musik nie aufgelöst wurden. Er stand da, hinter seinem Mikrophon, versunken in den Klang und wie ein Gefangener seiner selbst. Ein kleiner Mann, verschreckt, mit abstehenden Ohren, der sang: "It's so serious".
Für Hollis war die Gegenwart und alles, was ihm darin wichtig vorkam, nur "einen Traum entfernt". Als Idealist bestrafte er sich dafür, "zu viel Hoffnung" zu haben. So artikulierte er in seinen Songs Zweifel, Schuldgefühle und Ängste und fragte sich, wie schlimm und verdorben es sei, wenn seine Freundin nicht wusste, dass er mit einer anderen Frau unterwegs war. Andererseits sagte er sich: "It's my life."
Aversion gegen die Spaß-Kultur
Zur Musik fand der 1955 in Tottenham geborene Hollis durch seinen älteren Bruder. Der war DJ und kümmerte sich um die Geschäfte aufstrebender Bands. Zunächst wollte Mark Hollis Kinderpsychologe werden. 1975 siedelte er nach London über, geriet in den Sog des Punk und brachte mit seiner ersten Band The Reaction eine Single heraus. Nichts war damals von Dauer. So zerfiel die Band gleich wieder.
Da sein Bruder viele Musiker kannte, stellte er ihm den Bassisten Paul Webb, Schlagzeuger Lee Harris und Keyboarder Simon Brenner vor. Sie benannten sich nach einem der Songs, mit denen Hollis zuvor bei EMI aufgefallen war – „Talk Talk“. Die Plattenfirma hatte kurz zuvor Erfolg mit Duran Duran gehabt, jetzt suchte sie nach einer Formation mit ähnlichem Profil. Da kamen Hollis und seine Gefährten gerade richtig mit ihrem romantischen Gestus. Das Debütalbum „The Party’s Over“ kam 1982 heraus und passte sich mit seiner Synthie-Kälte und Hollis' wunder Stimme gut ein in den Korridor, den Human League, Depeche Mode, The Cure damals dominierten. Mit seiner scheuen Coolness wirkte Hollis wie der ideale New-Wave-Star.
Doch er reagierte zunehmend allergisch auf die sich ankündigende ironische Spaß-Kultur, in der alles vom Marketing abhing. Während Viva und MTV ihren Siegeszug antraten und Musik in Videoformate übersetzt werden musste, mieteten Talk Talk eine Kirche in Suffolk, kapselten sich bewusst von der Außenwelt ab. Mit Produzent Tim Friese-Greene hatte Hollis den passenden Partner für seine experimentellen, monochromen Blues-Visionen gefunden. Sie vertieften sich in "Scetches of Spain", das Miles-Davis-Album, das den Cool-Jazz definiert hatte. Und Hollis machte seine Mitstreiter auch mit "Astral Weeks" von Van Morrison bekannt, einem nicht minder visionären Werk. Sie verpassten die erste Deadline des Labels. Sie verpassten die zweite. Sie überzogen ihr Budget um ein Vielfaches. Und Hollis wehrte die Begehrlichkeiten der Labelbosse mit der Bemerkung ab, dass es weder eine Single noch Liveauftritte geben würde. Nach 14 Monaten im Studio war „Spirit of Eden“ fertig.
Er ließ die Musikindustrie hinter sich
Niemand verstand damals, wie sich eine Band gleichzeitig so viele unterschiedliche Einflüsse zu eigen machen konnte. Als ein paar Jahre später "OK Computer" von Radiohead erschien, trug Hollis' Ansatz erste Früchte.
Nach 1991 wurde es still um ihn. Er brachte noch einmal ein Soloalbum heraus. Das ist nun schon über zwanzig Jahre her. Danach verstummte er ganz. Er hatte gesagt, was er sagen wollte, wandte sich vom Musikbusiness ab. Das Echo kümmerte ihn nicht.
Das Tribute-Album mit Talk-Talk-Songs wühlte dann vieles wieder auf. Wohin waren Hollis und seine Mitmusiker bloß verschwunden? Wie lebten sie? Vertraute berichteten, dass Hollis ein „normales Leben“ führe. Alle paar Monate tauche er im Büros seines Mangers auf. „Wir trinken einen Kaffee, quatschen meistens über Fußball", sagte der, "es ist, als habe er einfach nur den Job gewechselt.“ Wenn Hollis gefragt würde, ob mal wieder ein neues Album drin sei, antworte er stets. „Das habe ich hinter mir. Ausrufezeichen.“
Am Montag wurde bekannt, dass Mark Hollis im Alter von 64 Jahren gestorben ist. Ein Familienvater, ein wunderbarer Charakterkopf, der gesungen hatte: "It's my life / It never ends."
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