Felwine Sarrs "Afrotopia": Manifest für Afrika
Für die Morgenröte eines neuen, selbstbestimmten afrikanischen Bewusstsein streitet Felwine Sarr in "Afrotopia". Eine Kolumne.
Afrika ist Traum und Alptraum der Anderen, der Nichtafrikaner. Sie projizieren Bilder von unterentwickeltem Elend, verheißungsvoller Ursprünglichkeit oder künftiger, kapitaler Schatzgruben auf die Länder Afrikas, vor allem südlich der Sahara. Mit westlichem „Katastrophismus“ ebenso wie „seligem Optimismus“ will Felwine Sarr aufräumen. Der senegalesische Ökonom, der 2018 mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy ein viel diskutiertes Konzept zur Restitution afrikanischer Kulturgüter aus Europa vorlegte, hat einen noch umfassenderen Auftrag. Sein Manifest „Afrotopia“ für die Morgenröte eines neuen, selbstbestimmten afrikanischen Bewusstseins, streitet mit Vehemenz für das Primat der Qualität vor der Quantität, wie einst Erich Fromm, für „Sein“ vor „Haben“. (Aus dem Französischen von Max Henninger. Matthes und Seitz, Berlin 2019. 176 S., 20 €.)
Geschult unter anderem an Frantz Fanon und am französischen Denken, an Lacan, Foucault – mit Spuren von Rousseau? – begibt sich Sarr sich auf eine intellektuelle Wanderschaft durch den heutigen, postkolonialen Kontinent. Überall deckt er Residuen kolonialer Verheerungen auf und beklagt den westlich-hegemonialen Oktroi von Machtstrukturen. Seine Kritik gilt auch dem betäubten Mangel an originär afrikanischen Zukunftsmetaphern und an Autonomie, etwa beim Ausverkauf von Land und Bodenschätzen an Investoren aus China. Als Ursache für den ausbleibenden Erfolg afrikanischer Staaten, verortet Sarr eine basale Asymmetrie: Westliche Wirtschaftssysteme und Afrikas Kultur passen nicht zusammen. Wie Max Weber spricht Sarr von der Entzauberung der Welt durch Rationalisierung und beklagt eine „quantophrenische Schieflage“, in der Zahlen und Statistik siegen über das Leben, über das, worauf es ankommt: Zufriedenheit, Intensität, Solidarität, Spiritualität, fehlende Entfremdung – Afrikas kulturelle Ressourcen. Verschüttet vom kapitalistischen Furor, dem die Potentaten und Oligarchen vieler Staaten Afrikas anheim gefallen sind, gelte es, die Minderwertigkeitskomplexe hinter sich zu lassen, und nicht nur diese traditionellen Ressourcen zu mobilisieren – auch zum Wohl der übrigen Welt, die davon lernen könne.
Obwohl Sarr nicht das Risiko eingeht, im Sinn von Léopold Sedar Senghor eine Art Négritude 2.0 zu entwerfen, ergeben sich problematische Fragen, etwa zu seinem essentialistisch anmutendem Beharren auf „charakterlichen Besonderheiten der Völker“. Diese würden durch „euroamerikanische“ und universalistische „Mytheme“ – Entwicklung, Armutsbekämpfung, Nachhaltigkeit – sabotiert. Und wohin trägt der Einspruch an westlicher „Uniformisierung“ durch Entwicklungsdiskurse mit den kritisierten Schlüsselbegriffen wie „Wohlstand“, „Fortschritt“, „Gleichheit“? Einen produktiven historischen Austausch zwischen Nord und Süd erkennt der gelehrte Wissenschaftler kaum – oder kaum an. Dabei ist sein zur Kritik wie zum Weiterdenken inspirierendes und exzellent übersetztes Buch ein guter Beleg dafür, dass die Fusion von Denkfiguren unterschiedlicher Provenienz die besten Früchte trägt.
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