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Michael Cunningham: Manhattan, meine Muse

Sein Roman "The Hours" wurde mit Nicole Kidman verfilmt. Michael Cunningham erzählt, wie ihn New York für sein neues Buch inspirierte – die Stadt, die er liebt und hasst.

New York ist überwältigend. Und überwältigend teuer – unerschwinglich für junge Künstler. Manhattan wird immer mehr von Bankern und Business-Leuten bevölkert, während Schriftsteller und Künstler ins hinterste Brooklyn oder Queens ziehen.

Als ich Mitte der 70er Jahre herkam, war New York noch ziemlich rau, aber auf eine gute Art. Es war gefährlich und aufregend, man hatte das Gefühl, hier wird Kultur neu erfunden. Wenn ich nachts durch die Straßen lief und Licht in einem Fenster sah, dachte ich: Welcher große Künstler wohl dahinter arbeitet? Heute sitzt da mit großer Wahrscheinlichkeit ein Anwalt an seinem Schreibtisch.

Mein neuer Roman, „In die Nacht hinein“ (Luchterhand Verlag), spielt in der New Yorker Kunstwelt; Peter, die Hauptfigur, hat eine Galerie in Chelsea. Es gibt eine Million Romane über die Filmwelt, aber kaum einen über die Kunstwelt. Die interessiert mich. Besonders angenehm ist sie nicht – ein bisschen wie Hollywood. Als ich das Manuskript befreundeten Galeristen zu lesen gab, waren sie ganz überrascht: „Peter interessiert sich ja tatsächlich für Kunst! Den meisten Händlern ist die scheißegal.“ Die literarische Welt ist im Vergleich dazu richtig altmodisch – weicher. Auch wenn sich das verändert.

Als ich klein war, wollte ich selber Künstler werden, aber am College habe ich gemerkt, dass mir der Funke fehlte, ich war nicht gut genug. Damals habe ich mit dem Schreiben angefangen und am Iowa Writers Workshop habe ich dann Creative Writing studiert. Das einzig Gute an Iowa City war, dass es keine Ablenkungen gab. Als wäre man ein paar Jahre im Kloster.

Auch wenn ich selber nicht, wie Peter, in SoHo wohne, sondern in Chelsea: Er lebt und bewegt sich im selben New York wie ich. Die Stadt hat eine so gewaltige Präsenz, ist so lebendig, so dominant – einen Roman zu schreiben, der hier spielt, ohne dass die Stadt selber darin zu einer Figur wird, das geht gar nicht. „The Hours“ erzählt von Virginia Woolf und anderen Menschen, „In die Nacht hinein“ von New York und anderen Menschen.

Ich weiß noch genau, wie ich hier ankam, 35 Jahre ist das her, am Abend von Halloween. Alle waren verkleidet, überall Drag Queens. Und ich dachte: Ich weiß, dass es nicht jeden Abend so ist, aber hier will ich leben, zwischen diesen Genies. Die Aids-Epidemie hat natürlich viel verändert – das ist so, als hätte man einen Krieg überlebt, das prägt einen für den Rest des Lebens.

Anfangs habe ich in Brooklyn gewohnt, in Williamsburg, das heute sehr cool ist und damals sehr uncool war. Es gab da ein paar polnische Versicherungsagenturen und spanische Bodegas, das war’s. Dann bin ich in ein Loft in Downtown Manhattan gezogen, das zu unserer Überraschung keine Heizung hatte. Es war ziemlich billig, aber wir sind gar nicht auf die Idee gekommen, den Vermieter zu fragen, ob es beheizbar ist. Davon sind wir ausgegangen. Meine beiden Mitbewohner und ich haben wie die Schlittenhunde dort gelebt. Manchmal sind wir abends um acht ins Bett, haben uns aneinander gekuschelt und Fernsehen geguckt. Über Nacht ist die Butter festgefroren – selbst für Mäuse war es zu kalt. Nur den Kakerlaken hat das nichts ausgemacht, die gedeihen überall.

Ich hab’ nie zu einer Szene gehört, auch damals nicht. Unsere WG, das war unsere eigene Drei-Personen-Szene, ein Künstler, ein Dramatiker und ich. Wir haben uns zum zweiten Akt ins Theater geschlichen und sind in Ausstellungen gegangen, die umsonst waren, ganze Nächte haben wir über Kunst geredet. Das war schon romantisch. Aber kalt.

Jeder Ort braucht Kunst. Und eine Stadt, die auf so großartige, groteske Weise hässlich ist wie New York, so unglaublich laut und herausfordernd, erst recht. Schon deswegen, weil einem in einer Galerie keine Plastiktüte ins Gesicht fliegt, wie es einem auf der Straße ständig passiert. Man hat tatsächlich Zeit, etwas anzugucken, über eine Idee nachzudenken. In New York sind Galerien Oasen. Nicht unbedingt Schutzzonen der Schönheit, aber eine Möglichkeit, von der Straße wegzukommen und Kunst anzusehen, die hässlich sein mag oder provozierend, und doch: Du hast da einen Ort, das aufzunehmen, berührt zu werden.

Ich kaufe Kunst, wenn ich sie mir leisten kann, viel von Freunden. Als Romancier habe ich nicht das Geld, richtiger Sammler zu sein. Und ich bin ganz glücklich, mir die Arbeiten in der Galerie, im Museum anzugucken. New York hat ja nicht viele öffentliche Räume, nur die Straßen. Da ist ein Museum wie das Metropolitan großartig. Ich finde, es hat auch was Tröstliches, Beruhigendes. Ich guck’ mir da immer nur ganz gezielt bestimmte Abteilungen oder Ausstellungen an, um nicht von der Fülle erschlagen zu werden.

Wenn jemand die New Yorker Kunstszene kennenlernen will, würde ich ihn in ein paar große Galerien in Chelsea schicken, Gagosian und Luhring Augustine beispielsweise, und ein paar kleinere wie Jack Shainman, mit dem ich befreundet bin. Außerdem sollten sie ins Whitney und ins Museum of Modern Art gehen. Und sich die Kunst auf der Straße angucken. Wenn ich die Whitney Biennale kuratieren könnte, würde ich ein paar Leute von der Straße mit in die Ausstellung nehmen, um zu sehen, wie sie dort wirken. Wenn du etwas ins Museum stellst, wird es mit ganz anderen Augen betrachtet. Landschaftsgemälde, die auf der Straße schrecklich ernst daherkommen, würden im Whitney wahrscheinlich ironisch verstanden werden.

Wenn ich selber ein Kunstwerk wäre - ich würde mir gern vorstellen, dass ich ein Richard Serra wäre, eine riesige rostige Skulptur. Aber ich fürchte, ich bin mehr ein dürrer Giacometti.

Ich liebe auch die Frick Collection, die hat eine sehr angenehme Größe und so etwas Reines – dort hängt Kunst, die den Test der Zeit bestanden hat. Da gehe ich hin, um mich daran zu erinnern, was Künstler seit Hunderten von Jahren gemacht haben. Und wenn man Zeit hat, geht man am besten gleich anschließend ins New Museum of Contemporary Art auf der Bowery, um zu gucken, was Künstler jetzt machen. Ich mag das New Museum sehr, selbst wenn mir nicht alles gefällt, was sie dort zeigen. Natürlich gehe ich auch ins MoMa, aber mein Herz hängt nicht daran. Man hängt ja auch nicht an IBM. Das MoMA ist ein Kunst-Konzern.

Uptown kommt mir vor wie eine andere Welt – wohlhabender, sauberer. Da geh ich nur hin, wenn ich ins Museum will. Downtown fühle ich mich wohler, mir gefällt der Dreck, das Elend, der Krach. Woody Allen sagt ja gern, dass er selten in die Gegend südlich vom Central Park geht. Die 23. Straße ist meine nördliche Grenze. Das ist der Unterschied zwischen Woody Allen und mir. Zu Beginn von „Manhattan“ erklingt Gershwin – wenn ich selbst so einen Film machen würde, würde ich „Heroin“ von Velvet Underground spielen. Lou Reed und John Coltrane, das ist meine New York-Musik.

Uptown gibt’s auch kein Caffe Reggio, das ist ein netter Treffpunkt. Das hat sich nicht verändert seit Kerouac dort war. Der Kaffee ist nicht besonders gut, sie sind geizig, nehmen keine guten Bohnen. Aber ich sitze gern hier. Allerdings nicht, um zu schreiben, das kann ich nur in meinem Studio. Ich brauche Ruhe, brauche meine Sachen um mich herum.

Hier um die Ecke vom Caffe Reggio, im Village, habe ich mein Studio, da gehe ich jeden Tag zum Arbeiten hin. Dort hängt auch eine Tafel, auf die ich das schreibe, was mich gerade inspiriert. Lange Zeit war das der Schluss von Molly Blooms Monolog aus „Ulysses“ : „….and yes I said yes I will yes.“ Ich wollte Joyce im Raum haben. Jetzt steht dort eine Passage aus Allen Ginsbergs „Howl“. Damit will ich was hervorkitzeln.

Deswegen lege ich auch immer Musik auf, wenn ich ankomme: um den Raum aufzuwecken, etwas in Gang zu bringen. In letzter Zeit hab ich oft die gute alte Patti Smith gehört. Für den Roman „In die Nacht hinein“ habe ich ganz oft John Adams und Steve Reich gespielt, experimentelle Musik, immer wieder „Einstein on the Beach“. Beim Schreiben selbst höre ich allerdings keine Musik.

In einer Szene in meinem Roman läuft Peter nachts die Bowery auf der Lower East Side runter. Vor 25 Jahren wär’ das viel zu gefährlich gewesen. Er trauert dem aber auch nach, während er durch diese Geisterstadt läuft, wo vor einem Vierteljahrhundert alle möglichen Geschöpfe waren – und nicht alle harmlos. Die Bowery hat sich extrem verändert. Da gibt’s keine Penner mehr, dafür das New Museum, und aus dem früheren Punk-Club CBGB ist ein schicker Designer-Laden für Männermode geworden. Peters langer Gang durch die Nacht, bis runter zum Battery Park, wo die Insel endet und der Ozean sich auftut: Das ist eine kleine Hommage an James Joyce’ „Ulysses“.

Ich mag die Nacht, lieber als den Tag. Sie ist spannender. Mir gefallen die Typen, die dann draußen sind. Außerdem kann man den Leuten, wenn’s draußen dunkel ist, gut ins Fenster gucken. Ich bin eine große Nachteule. Dass ich heute sicher bin, wenn ich da rumlaufe, hat natürlich viel damit zu tun, dass die Stadt so keimfrei gemacht worden ist.

Peter stellt sich manchmal nachts, wenn er nicht schlafen kann, ans Fenster und sieht seinen Nachbarn gegenüber, dem es genauso geht. Aber nie, nie würden sie sich zuwinken oder anlächeln. Das tut man nicht in New York, man nimmt den anderen nicht zur Kenntnis. New Yorker misstrauen zu viel Freundlichkeit. Ich bin in Los Angeles aufgewachsen, und obwohl ich schon so lange hier lebe, nicke ich den Leuten immer noch zu, denen ich bei uns im Treppenhaus begegne, sage Hallo. Die starren zurück, als wäre ich geisteskrank. Das kotzt mich an. Manchmal möchte ich die Leute am liebsten anbrüllen: Hör mal, wir sind zwei menschliche Wesen, die sich auf der Treppe begegnen, guck mich doch einfach an und sag Hallo, Herrgott noch mal! Wie schlimm könnte das deine Würde verletzen?

Ja, das kotzt mich an. New York kotzt dich an – aber darum geht's ja auch. Es soll dich ankotzen.

Manhattan hat manchmal fast was Mittelalterliches: Ratten, Müllberge, entstellte Bettler – es gibt Momente, da hast du das Gefühl, du bist im 12. Jahrhundert. Ich glaube nicht, dass das je ganz verschwinden wird. Die Stadt ist so kompakt, dass man Leuten, die ganz anders sind als du, gar nicht entkommen kann, man wird ständig mit ihnen konfrontiert. Die Reichen und die Armen laufen über denselben Bürgersteig.

Doch manchmal muss man sich auch abschotten. Vorhin bin ich einem Mann begegnet, der einen Einkaufswagen vor sich herschob und in voller Lautstärke sang: „New York is full of fucking faggots! New York is full of fucking faggots!“ Als eine dieser Scheiß Schwuchteln hatte ich das Gefühl, ich müsste eigentlich mit ihm reden. Aber ich habe dann eingesehen, dass das nichts bringt.

Ab und zu muss man der Stadt auch entfliehen, das tun alle, die es sich leisten können. Ich hatte Glück: Mit dem Geld für die Filmrechte von „The Hours“ konnte ich mir ein Haus auf Cape Cod kaufen, da bin ich den ganzen Sommer und arbeite. Das Leben dort ist völlig anders, da begrüße ich Wildfremde auf der Straße mit „Hi honey!“, und genauso grüßen sie zurück: „Hi honey!“ Man kann einem Unbekannten sagen: „Ich liebe dein leuchtend blaues Haar“, und er wird antworten: „Oh, Dankeschön!“ Es ist eine sanftere Welt, ich bin da auch anders – offener, freundlicher, wahrscheinlich glücklicher. Dafür fehlt es in Provincetown an Vitalität, ich könnte nie das ganze Jahr dort leben. Ich mag die Härte von New York, ich muss mich nur ab und zu wegstehlen.

Eine andere Möglichkeit, mit dem ganzen Chaos da draußen umzugehen, sind die Rituale, die alle New Yorker haben. Am Sonntag morgen liest man die „New York Times“ im Bett, man hat eine Lieblingsserie im Fernsehen (meine ist „Dexter“, über einen Serienmörder), einen Lieblingschinesen, von dem man sich was nach Hause bestellt.

Wenn ich die Möglichkeit hätte, mich in eine andere Zeit zu beamen, würde ich die 40er Jahre wählen. Da war New York großartig, als alle in die Clubs in Harlem gingen, überall Jazz zu hören war. Kerouac war noch nicht hier, aber das Fundament für ihn war schon gelegt.

In 50 Jahren, fürchte ich, wird New York ein Freizeitpark sein, eine Nachbildung seiner selbst. Das ist es ja jetzt schon, immer mehr. Gehen Sie bloß mal zum Times Square! Das ist nur noch ein Imitat des Times Square. Da leuchten überall Lichter, aber es gibt keine Nutten mehr, keine verzweifelten Gestalten.

Dabei ist New York doch auf monströse Art schön. Diese schreckliche, schwierige Schönheit: Die ist mir die liebste.

Susanne Kippenberger

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