Polen: Malta-Festival in Poznan feiert Jubiläum
Eine Stadt wird zur Bühne: Das 20. Malta-Festival im polnischen Poznan stellt sich der Geschichte und läuft rückwärts.
Den Blick auf die Kathedrale gerichtet, setzt sich der Marschzug in Bewegung. Das Interesse der polnischen Medien ist groß, es sind fast so viele Fotografen wie Teilnehmer erschienen, auch die Autofahrer an der Brücke über die Warthe verlangsamen das Tempo, für Schnappschüsse mit der Digitalkamera. Ob man auf den Bildern erkennen wird, dass die Menschen rückwärts laufen? „The march backwards“ hat die Künstlerin Hanna Gill-Piatek diese Aktion während des Malta-Festivals getauft.
Die Bürger und Besucher im polnischen Poznan sind eingeladen, die Stadt aus einer neuen Perspektive zu sehen, sich ihr tastend, vorsichtig zu nähern. Die Route führt von der Basilika vorbei an jenem stillgelegten Schornstein einer Papierfabrik, aus dem Joanna Rajkowska – bekannt für ihre provozierenden Interventionen im urbanen Raum – ein Minarett ohne Moschee machen wollte, bis zur alten Synagoge, die von den Nazis zum Swimmingpool für die Wehrmacht verschandelt wurde und bis heute ein Schwimmbad ist.
Drei Weltreligionen im Rückwärtsgang. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die sich mit aller Macht aneinander reiben. Rajkowska, die ihr Minarett vorerst nicht realisieren durfte, betont im Gespräch, es ginge hier nicht eigentlich um Glaubensfragen: „Das Minarett sollte ein Fingerzeig sein, der auf die Probleme deutet, die wir nicht nur mit Muslimen, sondern grundsätzlich mit den anderen haben.“ Arbeit am Narbengewebe der Identität nennt sie das.
Zum 20. Mal fand das Malta-Festival im polnischen Poznan statt, ein Theater-, Performance- und Musik-Event, das 1991 als Begleitveranstaltung zur Segelregatta auf dem nahen Malta-See ins Leben gerufen wurde und Stadtentwicklungshilfe leisten sollte. In politischer Umbruchzeit wurde es unter seinem Gründer Michal Merczynski – als weit vernetzter KulturAficionado bis heute Direktor – zum Forum für die polnische (Off-)Theaterszene. Und wuchs schließlich zur internationalen Kulturplattform im Spannungsfeld zwischen Kommerzialisierung und Europäisierung, Trend- und Profilsuche.
Die Philosophie, bis heute: Theater nicht nur in, sondern mit der Stadt machen. Poznan wird Bühne. Keine Fußgängerzone, keine Brücke, keine Brache, die während des neun Tage währenden Happenings nicht bespielt würde. Die britische Compagnie Periplum, die an das deutsche Straßentheater Titanick erinnert, zieht mit dem Spektakel „The Bell“ über den Place Wolnosci nahe der Altstadt und erzählt in den Nebelschwaden der bengalischen Feuer eine bombastische Kriegsallegorie. Die örtliche Movements Factory lässt im minimalistischen Gegenentwurf an einer Brücke nahe der Dominsel eine Gruppe von Performern im Seniorenalter mittelalterliche Tableux vivants in Unterwäsche aufführen – wundersam entrückt. Und die französische Compagnie Ex Nihilo verwandelt eine der Haupteinkaufsstraßen in eine Tanzfläche zwischen Paaren und Passanten.
Die Idee, sich den öffentlichen Raum mit der Kunst zurückzuerobern, wirkt nach wie vor lebendig. Die Künstler Anna Czarnota und Mika Grochowska haben für die Aktion „Fundament ruina“ ein verfallenes Stadion für Besucher geöffnet. Nebenan werden in großen Marktzelten Kleider und Schuhe verkauft, in den vermüllten Nischen des längst überwucherten Rundbaus haben sich die Wohnungslosen eingerichtet. Nichts erzählt mehr von den Siegen, die hier einmal gefeiert wurden. Und nichts von den Exekutionen, die dort während der NS-Besatzung stattfanden. Die nachschmerzende deutsch-polnische Vergangenheit, sie begegnet einem überall (Tsp. vom 1. Juli).
Der alte Schlachthof ist ein Ort, den sich das Festival vor Jahren erschlossen hat. Charlotte Gainsbourg gibt auf dem Gelände ein umjubeltes Konzert, ihr erster Auftritt in Polen überhaupt. Und Felipe Berta stellt in den leeren Hallen des weitläufigen Klinkerbaus, sein Projekt „Eutopia“ vor. Pläne für ein europäisches Haus, das er in Brüssel verwirklichen will. „Collective Memory Mass Grave“ soll der Kellerraum heißen, Massengrab der kollektiven Erinnerung. Man läuft vorbei an Architekturzeichnungen und Modelllandschaften mit traumageladener Konnotation – sie erinnern etwa an das Massaker von Katyn –, und dann schaut man durch den Sehschlitz einer Holzbox und sieht ein Miniaturmodell des Eingangstores von Auschwitz.
Als Neuerung gibt es die Reihe „Idiom“, ein Länderschwerpunkt-Programm, in diesem Jahr Flandern gewidmet. Alain Platel und les ballets C de la B zeigen ihre berührende Pina-Bausch-Hommage „Out of Kontext“, Jan Lauwers und Needcompany sind mit dem wuchtigen sechsstündigen Triptychon „Sad Face/Happy Face“ in den Hallen auf dem Messegelände zu Gast, Jan Fabre gastiert mit der etwas schwülstigen Soloperformance „Another Sleepy Dusty Delta Day“. Drumherum gibt es Workshops, Podiumsdiskussionen, Filme. Nicht alles sehenswert, aber fraglos ein Renommee-Programm. Das Ziel ist klar: stärker noch als bisher will Malta mitmischen auf dem internationalen Koproduktionsmarkt, sich als Station im Wanderzirkus der europäischen Festivals etablieren.
Poznan selbst ist längst angekommen in der europäischen Gegenwart. Auf dem Marktplatz zählt eine Uhr die Stunden und Minuten rückwärts bis zum Beginn der Fußball EM 2012, die Polen zusammen mit der Ukraine ausrichten wird und über die ein Uli Hoeneß lästerte, sie sei nicht gerade der Traum schlafloser Nächte. Dabei gibt es wahrhaftig keinen Anlass, sich dem Nachbarland überlegen zu fühlen. Auch nicht in einer Debatte, wie sie über Joanna Rajkowskas ungeliebtes Minarett geführt wird. Islamophobie und krude Wertedebatten kann man identisch in Berlin erleben.
Im Herbst nun soll sich der Schornstein, mittels Projektionen und Leuchtstoffröhren, in das Minarett verwandeln, das ein Fingerzeig ist.