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Milchbärte von einst. Karl Horst Hödicke, Lothar Poll und Ulrich Baehr (v. l.) im legendären Schöneberger Hinterhof.
© Björn Kietzmann

Berliner Galerie- und Malerlegenden: Maler sollt ihr sein

Vor 50 Jahren wurde mit Großgörschen 35 die erste Produzentengalerie gegründet. Ein Wiedersehen mit Karl Horst Hödicke, Lothar Poll und Ulrich Baehr.

Die Zeitreise beginnt vor dem Haus. „Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen“, ruft Karl Horst Hödicke, als er auf das Grüppchen stößt, das sich in der Großgörschener Straße in Schöneberg vor der Nummer 35 versammelt hat. Und Ulrich Baehr wundert sich: „Ich hätte es fast nicht wiedergefunden.“ Da stehen sie, Hödicke und Baehr, Mitbegründer der Großgörschen 35, Deutschlands erster Produzentengalerie. Sechzig Jahre ist es her, dass sie mit 14 Künstlern hier eine Fabriketage bezogen haben. Legendär ist die Truppe geworden: als Vorläufer für all jene Projekträume, die es heute gibt. Namhafte Künstler gingen aus dem lockeren Bund hervor.

Die beiden Maler, beide 76, sind sofort im Gespräch. Was macht der, was hast du von dem gehört? „Hat nicht Lüpertz in der Großgörschen geheiratet?“, fragt Baehr. Nein, das war woanders. Lüpertz war Mitglied – wie Hans-Jürgen Burggaller, Hans-Jürgen Diehl, Leiv Warren Donnan, Hans-Georg Dornhege, Eduard Franoszek, Franz Rudolf Knubel, Reinhard Lange, Dieter Opper, Wolfgang Petrick, Peter Sorge, Arnulf Spengler, Lambert Maria Wintersberger und Jürgen Zeller. Edwin Dickman, Eberhard Franke und Bernd Koberling waren Gäste.

„Sssss.“ Der Türsummer geht. Die Gruppe betritt das Haus. Dabei sind Lothar Poll, Galerist und einstiger Geschäftsführer der Selbsthilfegalerie, Hödickes Frau Elvira und Eckhart Gillen, der die Jubiläumsausstellung im Haus am Kleistpark kuratiert hat. Hödicke legt den Kopf in den Nacken und sagt: „Das ist ein Schöneberger Himmel.“ Die Häuserwände stehen so eng beieinander, dass die Linien zu stürzen scheinen, die Mauervorsprünge stechen wie Zacken in die blaue Luft. Der neo-expressionistische Maler und Wegbereiter der Jungen Wilden hat diesen Ausschnitt immer wieder gemalt, ein Werk der Serie befindet sich in der Berlinischen Galerie, die ihm 2013 eine Retrospektive gewidmet hat.

Eckhart Gillen verteilt den frisch gedruckten Ausstellungskatalog. Baehr blättert darin, sieht sich die Fotos von früher an: „Wir waren ja ganz schöne Milchbärte.“ Jung waren sie, Anfang, Mitte zwanzig, viele von ihnen Meisterschüler oder aus dem Umfeld Fred Thielers an der Hochschule für Bildende Künste. Anders als ihr Lehrer, ein Hauptvertreter des Informel, suchten sie das Figürliche. Wie kam es zu der Gründung?

„Es gab ja damals nichts“, sagt Hödicke. Die Galerien im Westen der Stadt konnte man an einer Hand abzählen: Gerd Rosen, Rudolf Springer oder Hans Pels-Leusden. Während im Rheinland der Markt schon wieder brummte, rutschte West-Berlin in die künstlerische Bedeutungslosigkeit ab. Es fehlte an Ausstellungsmöglichkeiten für junge Künstler. Die mussten sie sich selbst schaffen. „Wir wollten berühmt werden“, sagt Ulrich Baehr. Er fuhr damals Bier aus, um sich über Wasser zu halten. Hödicke arbeitete bei der Post. 1964 wird ein Schlüsseljahr. So erzählt es auch die Ausstellung im Haus am Kleistpark in ihrem Untertitel: „Aufbruch zur Kunststadt Berlin 1964“.

„Es gab Fassbier, Schnaps und Kunst. 300 Leute kamen.“

Die Insellage hatte auch ihr Gutes. „Alles war erlaubt“, sagt Eckhart Gillen. „Man konnte ohne Druck eine Karriere aufbauen.“ Die sechziger Jahre ähneln dem Berlin der Neunziger. Beide Male entstand eine kreative Freiheit: erst weil die Mauer gebaut wurde, dann weil sie fiel. Die Großgörschen 35 wollte „Werkstatt, Probebühne und Sprungbrett“ sein, wie der Kunstkritiker Heinz Ohff damals im Tagesspiegel zur ersten Ausstellung schrieb. „Immer am ersten Freitag im Monat luden wir zur Vernissage“, erinnert sich Hödicke. „Es gab Fassbier, Schnaps und Kunst. 300 Leute kamen.“ Jeder Künstler präsentierte reihum seine Malerei in Einzelausstellungen, hinzu kamen Gruppenschauen mit grafischen Arbeiten. Unter der Woche gab es Lesungen mit Peter Handke, H. C. Artmann oder Gerhard Rühm.

Von einer Schule kann man nicht sprechen, nichts Programmatisches verband die Maler. Nüchtern liest sich der getippte Gründungsvertrag, den es immer noch gibt, gelb verblichen. Es geht um Mietbeteiligung und Formalitäten mit dem Schlüssel. Zahlreiche Dokumente existieren noch heute: Einladungen, Gästebucheinträge, Zeitungsartikel. Vieles davon ist im Haus am Kleistpark neben frühen Arbeiten der Mitglieder ausgestellt. Dass es keinen künstlerischen Nenner gibt, führt zum Zerfall der Gruppe.

Zum einjährigen Bestehen 1965 bringt Hödicke in die erste Retrospektive seine Arbeit „Krone des Geschmacks“ ein, eine bemalte und mit Illustriertenausschnitten beklebte Glasscheibe, Teil einer Serie über Schaufenster. Das Werk wird abgehängt. Zu viel Dada und Pop Art, heißt es. Der Krach war da, das Ende kam 1968. Baehr liest aus einer Einladung zum Treffen der Gruppe vor: „Einziger Tagesordnungspunkt: Antrag der Mitglieder Baehr, Berges, Diehl und Petrick auf Ausschluss der übrigen Mitglieder, die nicht nach der Art des Neuen Realismus arbeiten.“ Amüsiert fragt er: „Wer hat das denn geschrieben?“ „Ich!“, ruft Poll.

Der Jurist hatte zuvor versucht, mit einer Satzung die Künstler zusammenzuhalten. Als Galerist wird er mit seiner Frau Eva zum größten Unterstützer des Kritischen Realismus, bis heute vertritt er Baehr. Heitere Farben, Lila, Türkis, Zitronengelb, prallen auf Knobelbecher und Schäferhunde, Panzer fahren auf. Immer wieder nimmt sich der Maler deutsche Geschichte vor. Im Schöneberger Hinterhof – einst dunkel und grau, heute hell und licht – stehen sie zusammen – Hödicke und Baehr. Wieder vereint.

Haus am Kleistpark, Grunewaldstr. 6–7, bis 10.8.; Di bis So 10 – 19 Uhr.

Anna Pataczek

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