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Irina Liebmann, geboren in Moskau, lebt seit ihrer frühen Kindheit in Berlin.
© Doris Spiekermann-Klaas

Irina Liebmann: Magie der Gegenwart

Das Scheunenviertel, Berlin und Deutschland sind ihr Lebensthema: Irina Liebmann wird heute siebzig. Begegnung mit einer Dichterin.

So etwas muss man sich trauen. In einem Haus an jeder Tür klingeln, vom Ladengeschäft Parterre links über den Hof bis zum Quergebäude vier Treppen hoch, und die Bewohner nach ihren Geschichten befragen. Irina Liebmann hat es getan. „Berliner Mietshaus“ erschien 1982, ihr erstes Buch. Entlang der Begegnungen in jenem Haus in Prenzlauer Berg erzählte sie die Geschichte eines Viertels, einer Stadt, eines Landes. „Vergangene und bestehende, öffentliche und private, erlebte und erzählte Wirklichkeit übersetzen sich ständig ineinander“ – der Satz stammt von der ersten Seite des Buches und steht wie ein Motto bis heute über Liebmanns Schreiben.

Wir sitzen in einem Café im Scheunenviertel. 1945, im Alter von zwei Jahren, war Liebmann mit ihren Eltern aus Moskau in das zerstörte Berlin gekommen, der „Hauptstadt des Kalten Krieges“, wie sie es nennt. Immer wieder dreht sich das Gespräch darum: Wie leben die Menschen in und mit ihrer Zeit? In diesem versehrten Jahrhundert zwischen Revolution, Krieg, Vernichtung und wiederkehrenden Momenten von Mut, Freiheit, Lebenslust? Zwischen 1917, 1945, 1989? Seit Mitte der 70er Jahre lebt Irina Liebmann als freie Autorin. Davor hatte sie Sinologie in Leipzig studiert und als Redakteurin für die DDR-Zeitschrift „Deutsche Außenpolitik“ gearbeitet. 1988 siedelte sie nach West-Berlin über.

Ständig ist Liebmann unterwegs in und mit ihren Büchern. Für ihr großes Poem „Letzten Sommer in Deutschland“ (1997) reiste sie durch die neue Republik. Für das preisgekrönte Buch „Wäre es schön? Es wäre schön!“ (2008) über ihren Vater Rudolf Herrnstadt, erster Chefredakteur des „Neuen Deutschland“, der Ulbricht entmachten wollte und nach dem 17. Juni 1953 in die Provinz verbannt wurde, führte sie Zeitzeugengespräche. Kaum ein Historiker dürfte die Neugründung der Berliner Zeitungslandschaft nach 1945 so detailliert aufgearbeitet haben. Doch Liebmanns Bücher unterscheiden sich weniger in den Recherchemethoden als in der Schreibweise. In ihr kristallisieren sich Reportage, literarische Erzählung, poetisches Bild, essayistische Reflexion und Dialog zu faszinierenden Kunst- und Geschichtswerken. Prägende Lektüren waren die späten Erzählungen des jiddisch-amerikanischen Autors Isaac Singers, Jakob Wassermanns „Die Juden von Zirndorf“ (dem sie ein großes Poem widmete) und Alfred Döblin. Autoren aus jüdischen Familien wie sie selbst. Deren Bücher von den Nazis verbrannt wurden. Ein Erbe, dessen lebendige Enden sie immer wieder aufnimmt.

Irina Liebmann will der Wirklichkeit etwas von ihrer magischen Ausstrahlung lassen

Irina Liebmann gibt dem Detail mehr Raum als ein gewöhnlicher Reporter und recherchiert weit nachhaltiger als viele Dichter. Was sie zur großen Geschichtsschreiberin unserer Gegenwart macht, ist ihr Respekt gegenüber den leeren Stellen im „Trümmerbild unserer Zeit“. Ihre poetische Einbildungskraft füllt die Lücken der Erinnerung nicht auf, sondern macht die Konturen dessen, was wir nicht wissen (können), erst sichtbar. „Wie etwas wirklich ist“, ist für Liebmann eine ethische Frage der Darstellung. „Ich wollte immer schreiben für lebendige Menschen, die wach sind und sich nicht für dumm verkaufen lassen“, sagt sie. „Ich will der Wirklichkeit ihre magische Ausstrahlung lassen.“ Prägend für diesen Umgang mit Realität war ihre Beziehung zu Rolf Liebmann (1939–2003). Der DDR- Kritiker und Dramaturg entwickelte eine neue Theorie des Authentischen für den Dokumentarfilm und arbeitete mit legendären Defa-Regisseuren wie Jürgen Böttcher, Karl-Heinz Mund und Ulrich Weiß. Filmemacher, mit denen Irina Liebmann das Verlangen nach mehr Wahrhaftigkeit teilt, gegen den parteikonformen „positiven“ Realismus. Ein Verlangen nach offenen Kunstwerken, bei denen deutlich ist, wer spricht.

Künstlerisches Medium ist für Liebmann vor allem die Montage. Im Zueinanderstellen einzelner Momente ohne Totalitätsanspruch erhalten die Magie und das Geheimnisvolle ihren Raum. Sie wohnen im Moment, im Spiel, im Humor. Ihre Gedichtbände „Das Lied vom Hackeschen Markt“ (2012) und „Die schönste Wohnung hab ich schon“ (2010) flunkern mit diesen Elementen, versammeln wundersame poetische Einfälle, spontan, unkonventionell, Berlinerisch im Ton. Für ihr neuestes Buch „Drei Schritte nach Russland“ (2013) ist sie in den Osten gereist, auf den Spuren ihrer Mutter. „Gestern noch Kommunismus aufbauen, zu jedem ,Genosse’ sagen, und heute ist nichts davon wahr“, das interessierte sie: „Ich wollte wissen, was Russland ist.“ Und wie neureligiöse Wundergläubigkeit mit dem Verschwinden des sozialistischen Fortschrittsglaubens zusammenhängt. Keiner wird nach der Lektüre auftrumpfen: „So ist Russland!“ Weil es die Autorin auch nicht tut.

Berlins Schicksal seit hundert Jahren: Der ständige Wechsel lädiert das Bewusstsein für die Geschichte des Ortes

Im „Berliner Mietshaus“ wohnt heute kein einziger Mieter mehr von damals. Liebmann ist immer wieder hingegangen, hat sich Klingelschilder angesehen. „So ein kompletter Wechsel lädiert natürlich das Bewusstsein für die Geschichte einer Stadt“, sagt sie. Damit müsse Berlin seit hundert Jahren leben. Aber: „Der Geist des Ortes schluckt doch alle.“ Man müsse die Stolzen auf ihren Fahrrädern und jenem „Ich bin in Berlin!“ im Gesicht nur mal aus leicht versetztem Blickwinkel betrachten, um zu sehen: „Das sind alles Zille-Typen! Verwahrloste, Verkommene.“ Nein? Liebmann schmunzelt.

Vom Scheunenviertel aus, meint sie, lasse sich deutsche Geschichte erzählen: 1848er Revolution, Pogrome, Gegenwart. Über Jahre hat sie die Schichten der Großen Hamburger Straße freigelegt. Einen Bruchteil dieser Materialien und Fotografien kann man in dem wunderschönen Band „Stille Mitte von Berlin“ (2002) bestaunen. Auf dem Weg zur S-Bahn streifen wir die Sophienstraße. Hier ließ Döblin Franz Biberkopf sagen: „Aber die Hauptsache am Menschen sind seine Augen und seine Füße. Man muss die Welt sehen können und zu ihr hingehen.“ Ein Satz wie ein Geschenk, auf das Irina Liebmann mit ihrem Schreiben antwortet.

Thomas Wild

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