Szene: M – Eine Stadt sucht ihren Milchkaffee
In stiller Härte saufen: Im Café M schien alles möglich – und nichts. Künstler und Freigeister trafen sich an diesem Ort. Wiederbegegnung mit einem Mythos.
Es ist schwer, das „M“ in der Schöneberger Goltzstraße auf Anhieb zu finden. Bildeten früher lediglich das Café Lux und eine typische Berliner Saufkneipe gewissermaßen die Café-M-Vorposten, wenn man sich von der Akazienkirche her näherte, ist die Goltzstraße heute eine einzige große Fressgasse. Tapasläden, Sushi-Bars und indische Restaurants stellen mit ihren Tischen und Stühlen den Bürgersteig komplett zu. Das M wirkt bedrohlich bedrängt, hat dagegen aber Maßnahmen ergriffen. Gegenüber den Stühlen und Tischen vor der Fensterfront mit dem rotleuchtenden „M“ an der Fassade steht eine Reihe schwarzer, tiefliegender Plastiksessel, so dass wirklich kein Mensch sich unbeobachtet am Café vorbeischlängeln kann.
An diesem schläfrigen Dienstagnachmittag aber muss sich niemand vor stierenden oder offen taxierenden Blicken fürchten: Vier Männer sitzen draußen, zwei vor ihren Laptops, einer in einer Zeitschrift namens „Klang und Ton“ blätternd, der vierte rauchend, Löcher in die Luft starrend und seinen Joint herumreichend. Sie alle sind eher weit über vierzig als knapp darunter, schlank, mit kurzen, teils grauen Haaren und kantiger Rainald-Goetz-Physiognomie. Und sie alle machen den Eindruck, als würden sie hier oft sitzen. Typische „M-People“, „M-Nasen“, oder „M-Hocker“ – so wurden die Stammgäste des Cafés früher abschätzig genannt. Sie aber prägten und prägen die eigentümliche M-Atmosphäre abseits des üblichen Frühstücks- und Barbetriebs.
Seine große Zeit hatte das M in den achtziger Jahren. Zunächst hieß es Mitropa, das aber unterband die Speisewagengesellschaft der Reichsbahn. Aus dem Mitropa wurde so das Café M, das heute noch in Berlin-Reiseführern als „Szene-Location“ geführt wird. Vor allem aber ist das M zu einer Legende geworden. Es kündet mit seinem stoischen Weitermachen von einer Zeit, da im Schatten der Mauer vielfältigste Lebensentwürfe ausprobiert wurden, da Unangepasstheit ungestört ausgelebt werden konnte. Zur Alternativkultur in Kreuzberg war das M in Schöneberg ein toughes Gegenmodell, eine Mischung aus New-Wave-Kühle, Mauerdüsternis und betonter Artyness bis in die mittleren neunziger Jahre hinein. Nick Cave und seine Bad Seeds gingen hierher, Blixa Bargeld bekam an der Theke meist sofort seinen Kaffee hingestellt, Harry Hass kam vor oder nach seinen Nachtschichten im Ex’n’Pop auf einen Sprung vorbei. Später vertrieben sich im M die Künstler Jim Avignon und Daniel Pflumm oder der DJ Tanith die Zeit, Comics lesend, sinnierend oder ganz leer im Kopf. In den nuller Jahren konnte man hören, wie der Schriftsteller Bernd Cailloux einem Freund stolz erzählte, dass er demnächst einen Roman bei Suhrkamp veröffentliche: „Das Geschäftsjahr 1968/69“, wie sich später herausstellte.
Den Mittelbau des Café M bildeten jedoch Menschen wie etwa der „Taxifahrer“ mit seinen langen lockigen Haaren und seiner braunen Taxifahrer-Lederjacke, die er nie auszuziehen schien. Oder „der Serbe", der einen roten Sportwagen besaß und in größerer Runde mal verlauten ließ, er sei aus Belgrad. Oder „der Franzose“, der einen Saab mit französischem Kennzeichen fuhr und immer ein Lächeln auf seinem Gesicht spazieren trug. Dann das Paar mit den Dreadlocks, das nachts immer im Niagara in der Gneisenaustraße war oder auf Mudhoney- oder New-Christs-Konzerten im Loft oder XTC. Der „Perser“, der manchmal für ein paar Monate in „Bonnys Ranch“ verschwand, der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Der „Skateboardfahrer“, der mit dem Skateboard zum M gefahren kam oder mit einem R 4, auf dessen Dach ein Kanu befestigt war. Der „Joyce-Leser", der nur Anzüge trug und nach dem dritten Bier den „Ulysses“ zur Seite legte. Oder „ Michelle Pfeiffer“, die ihr Budweiser nur aus dem Glas trank und nach dem vierten, fünften Bier selig vor sich hin grinste.
Sie alle störten sich nicht daran, dass es im M lange Zeit zum guten Ton des Personals gehörte, möglichst unfreundlich zu sein, nach Getränken anstehende Gäste so lange wie möglich zu ignorieren, kein Beck’s auszuschenken wie alle anderen Berliner Szeneläden („No Bex“ stand auf einem Schild hinter der Theke), sondern nur Flens und Budweiser, und Platten von Sonic Youth so laut zu spielen, dass Gespräche eigentlich unmöglich waren.
Heute ist natürlich vieles anders. Nicht nur, dass am Tisch bedient wird, und das durchaus freundlich, zumindest so lange der Laden nicht zu voll ist. Nicht nur, dass das „No-Bex“-Schild lange abmontiert ist und diverse Biersorten angeboten werden, darunter Beck’s und Beck’s Lemon – auch die Einrichtung hat sich mit den Jahren immer mal wieder verändert.
Früher waren die Wände schmutzig-nikotingelb (und wurden einmal im Jahr gestrichen, zu Ostern) und das Interieur denkbar spärlich: ein paar Barhocker, kleine, runde, rote Kunststofftische, schwarz, grün oder rot geflochtene Plastikstühle. Jetzt stehen im hinteren Bereich des schmalen Raums schwarze Kunstledersofas. Vor allem aber hängt jetzt an den Wänden Kunst. Sprühkunst. Vorne ein in roten Tönen gehaltenes M-Triptychon mit Straßen- und Innenansicht des Cafés, zu erwerben für 2400 Euro. Hinten, in der Sofaecke, gerahmte Busta-Rhymes- und Michael-Jackson-Porträts, eine Wand verschwindet komplett unter einem Graffiti-Gemälde. Ein seltsamer Stilmischmasch ist das: Sofas aus den Achtzigern verbreiten die Lounge-Atmosphäre der Neunziger. Dazu HipHop-Kunst, die vermutlich ein jüngeres Publikum anzieht, oder gar eines, seinerzeit undenkbar, mit Migrationshintergrund.
Die nachmittägliche Szenerie aber wird bestimmt von den vier älteren Männern, zu denen bald andere nicht mehr junge Gäste stoßen. Das Phänomenale am M ist, dass viele selbst nach Jahrzehnten dem Café die Treue halten. Früher galt hier zwar das ungeschriebene Gesetz, dass man sich untereinander nicht grüßte und cool blieb. Doch nach all den Jahren hat sich das gelockert, gerade wenn man den M-Nasen anderswo in der Stadt begegnet, wo man um einen Gruß oder gar einen kleinen Austausch kaum herumkommt.
Das Dreadlock-Pärchen zum Beispiel hat sich getrennt. Er ist nach einem Studium der Kulturwissenschaften Krankenpfleger geworden, irgendwo in Hessen, sie versucht derweil, sich als Model durchzuschlagen. Der „Joyce-Leser“ arbeitet heute als Architekt und geht mit seinem Chef immer im Sale e tabachi in der Kochstraße Mittagessen. Jim Avignon lebt in New York und Daniel Pflumm ist berühmt, hat sein Atelier in der Nähe der Treptower Arena und hockt deshalb meist im Myslywska in der Schlesischen Straße.
Der Taxifahrer aber wandert tatsächlich an diesem Dienstagnachmittag am M vorbei, mit einer Frau an seiner Seite, die ihn davon abhält, auf einen Milchkaffee zu bleiben. Kurze Zeit später kommt sein Bruder, auch er ein M-Stammgast, der gern in weißen Kleidern und Jesuslatschen unterwegs war. Heute trägt er einen roten Overall mit nichts drunter zur weiß-orangenen Bauarbeiterjacke. Die dünner werdenden blonden Haare hat er hinten zu einem Schwänzchen zusammengebunden. Er begrüßt den Kettenraucher und mich per Handschlag, und nachdem er sich ein Hefeweizen geholt hat, beginnt er ein Gespräch: „Du, Nicole hat eine Klage gegen mich eingereicht“. Es folgt eine komplizierte Geschichte, die ich unterbreche, indem ich ihm sage, gerade seinen Bruder, den Taxifahrer, gesehen zu haben: „Na, ist doch gut, wenn er schon da war, läuft er mir nicht mehr über den Weg“, erwidert er und erzählt dann, dass er wieder häufiger ins M komme und hier alles okay laufe. Die frühen Neunziger, ja, die seien schwierig gewesen „das war nach dem Besitzerwechsel“, aber auch für ihn selbst: „Ich bin dann nach Friedrichshain, war in der Hausbesetzerszene aktiv“.
Inzwischen gehe er viel auf der Schlesischen Straße aus, „interessante Läden da“. Schließlich fragt er unvermittelt, ob ich noch das New York am Olivaer Platz kennengelernt hätte, toller Laden, nur zu viele Drogen. Am Ende sei der Besitzer an einem „gebastelten Deal“ gescheitert.
Mythische Zeiten, wenn man dem Taxifahrerbruder so zuhört. Das Café M jedoch ist in der Gegenwart angekommen. Die Besitzerin ist inzwischen da, „Frau M“, wie sie früher gerne genannt wurde. Sie geht mit einem Mitarbeiter den Dienstplan durch. An der Eingangstür hängt ein Zettel: „Wanted! Frühstücks- & Tresenkraft für das M-Team“ , von a wie aufmerksam über l wie lebensfroh bis z wie zuverlässig werden da die Anforderungen an den M-Mitarbeiter durchbuchstabiert. Kreativität, so die Botschaft dieser Anzeige, kommt im Jahr 2007 im M noch vor Tradition, Pfiffigsein vor Szenekaputtness.
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