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Verschmilzt mit seiner Rolle: der 91-jährige Harry Dean Stanton als "Lucky".
© Filmfest Locarno

70. Filmfestival in Locarno: Lucky schaut in den Spiegel

Männerkörper, Männerfantasien – und eine Frau, die an Alzheimer stirbt: zum Abschluss des 70. Filmfestivals im schweizerischen Locarno.

Auf dem Filmfest Locarno wird die Besucherin manchmal vom Heidi-Gefühl heimgesucht. Sie möchte ein Dirndl anziehen, in die Tessiner Berge stürmen und barfuß über Almwiesen tollen. Die „Heidi“-Verfilmungen unserer Kindheit machten die Natur zum großen Spiel- und Abenteuerplatz, zum Terrain einer unschuldigen Verausgabungsfreude. In Locarno wird die vertraute Idylle in diesem Jahr jedoch von anderen Bildern infiltriert. Plötzlich lauert hinter jeder Tanne Gefahr, Pfeile fliegen durch die Lüfte, und der Mann im Gebirge sieht nicht mehr aus wie Heidis Großvater. Er trägt verfilzten Bart, Zottelhaare, Fellkleidung Wie einer der Urkrieger aus Felix Randaus Film „Der Mann aus dem Eis“.

Das Open-Air-Kino auf der Piazza Grande der schweizerischen Stadt mit den Alpenausläufern im Hintergrund ist der perfekte Ort für ein Bergdrama aus der Jungsteinzeit. Felix Randau erzählt die letzten Tage von Ötzi, der 1991 im 3208 hohen Tisenjoch mumifiert gefunden wurde, als blutige Rachegeschichte. Hoch oben, in schroffen Landschaften aus ewigem Eis, jagt Ötzi (Jürgen Vogel) mit brachialer Inbrunst und stets griffbereiter Steinaxt die Mörder seiner Stammesgenossen. Die Kamera folgt Männern, die einander mit großem Geheul die Köpfe einschlagen, die Augen ausdrücken und sich gegenseitig hinterrücks mit Pfeilen töten. Wenn auch simplifizierend archaisch, machte das Bild des Kriegers, der mit seiner Gewalt und Aggression noch ganz eins ist, auf extreme Weise Sinn auf diesem Festival.

Theweleits "Männerphantasien" wären die ideale Lektüre zum Filmfest Locarno

Auf den Leinwänden dieser 70. Ausgabe des Festivals am schönen Lago Maggiore begegnet man vielfach Männern auf der Suche nach sich selbst, ihrer geschlechtlichen Identität, ihrer Rolle in der Gesellschaft. Klaus Theweleits Theorie-Klassiker „Männerphantasien“ wäre die ideale Begleitlektüre zu etlichen Beiträgen. Etwa zu Hlynur Pálmasons düsterem isländischen Wettbewerbsfilm „Winterbrüder“, der in einer apokalyptischen Industrielandschaft angesiedelten Verhaltensstudie zweier Brüder, die sich in in der Rangordnung der Fabrik, in der sie arbeiten, nur als Konkurrenten begegnen können. Permanent entblößt der Ältere seinen kleinen Bruder vor den Kollegen. Nackt ringen sie miteinander, nackt übt der jüngere Bruder den kämpferischen Einsatz einer Schusswaffe und erinnert so an jene aufziehbaren Soldatenfigürchen, die mit schussbereitem Maschinengewehr über den Boden robben.

Im deutschen Beitrag "Drei Zinnen" spielt Alexander Fehling einen Vater, der seinem Sohn (Arian Montgomery) in den Bergen näher zu kommen versucht.
Im deutschen Beitrag "Drei Zinnen" spielt Alexander Fehling einen Vater, der seinem Sohn (Arian Montgomery) in den Bergen näher zu kommen versucht.
© dpa/Filmfest Locarno

In den unscharfen, vernebelten Bildern des Films wirkt sein hagerer Körper seltsam verloren, vereinsamt – eine Physis auf der Suche nach einer Ordnung der Körper. Für seine fast stumme Performance eines Mannes, der von der Wucht der eigenen Körperlichkeit überrascht wird, wurde der dänische Schauspieler Elliot Crosset Hove bei der Leoparden-Gala auf der Piazza mit dem Preis für den besten Darsteller geehrt.

Die Bodybuilder aus dem rein beobachtenden Essayfilm „Ta Peau si lisse“ („Deine Haut so glatt“) des Franco-Kanadiers Denis Côté wiederum definieren sich allein über ihre grotesk vergrößerten Muskeln. Wie eine ungeheure Kraftverschwendung wirkt das Training. Man sieht die Männer bei ihren schweißtreibenden Übungen, bei der präzise eingeteilten Nahrungszufuhr, die an Mästung grenzt, erlebt sie mit ihren Freundinnen, ihrer Familie. Auf diese wandelnden Muskelpakete lassen sich die unterschiedlichsten Männer- und Körberbilder projizieren: die Schönheitsideale der Antike, Kraft als Sublimierung für Minderwertigkeitskomplexe, Muskeln als Ausdruck verdrängter Gefühle. Es ist dem Regisseur hoch anzurechnen, dass die Kamera diesen Körpern ihre Vieldeutigkeit lässt – der Mann als ewiges Mysterium, das sich ihm selbst und uns nicht erschließt.

Vater und Sohn in den Bergen: "Drei Zinnen" von Jan Zabeil

Was ist das für ein Ich, gefangen zwischen den Anforderungen der Außenwelt und den Selbstentwürfen? In Jan Zabeils deutschem Beitrag „Drei Zinnen“ (ausgezeichnet mit dem Variety Piazza Grande Award) folgt man einem Mann, der sich selbst und sein Verhalten nicht mehr versteht. Für die Rolle des in Berlin lebenden Architekten Aaron hat sich Alexander Fehling eine gewisse Stämmigkeit antrainiert. Aaron scheint in seinem Körper zu ruhen, doch die mal abweisenden, mal gleichgültigen Reaktionen des kleinen Sohns der neuen Freundin verletzen sein Ego.

Gemeinsam verbringen die drei einige Zeit in einer abgelegenen Berghütte. Aaron liest dem Jungen vor, bringt ihm Orgelspielen und handwerkliches Arbeiten bei, spürt jedoch, dass Tristan ihn als Vorbild oder Vaterfigur nicht akzeptiert. Der große Mann und der kleine Junge werden als ebenbürtige Konkurrenten gezeigt, die zerklüftete Landschaft der Dolomiten wird zum Zeugen ihres Zweikampfs. Während einer Wanderung kommt es zu einem Unfall, ein Unwetter zieht auf, die Gefahr wirft Aaron und Tristan auf sich selbst zurück. Wie erstarrt wirken sie in ihren festgefahrenen Rollen, sind buchstäblich bewegungsunfähig.

Goßartig: der 91-jährige Harry Dean Stanton als "Lucky"

Verschmilzt mit seiner Rolle: der 91-jährige Harry Dean Stanton als "Lucky".
Verschmilzt mit seiner Rolle: der 91-jährige Harry Dean Stanton als "Lucky".
© Filmfest Locarno

In diese kräftig-jungen Körper ist die Vergänglichkeit noch nicht eingeschrieben. Wenn aber Harry Dean Stanton in „Lucky“ beim allmorgendlichen Rasieren seinen faltigen Oberkörper betrachtet, begegnet er nicht mehr dem Mann, der er einst war. Umso rührender seine Yogaübungen. Lucky lebt zwischen Kakteen und Felsen in einer Wüstenlandschaft an der mexikanischen Grenze, sein Alltag besteht aus Ritualen. Zigarette, Gymnastik, Kaffee im Diner. Kreuzworträtsel, Quizshows, Bloody Mary in der Lieblingsbar – der krönende Abschluss eines jeden Tages. Dabei umgibt den mittlerweile 91 Jahre alten Schauspieler die Melancholie eines Countrysongs, dessen Groove auch Lucky in seinen lakonischen Aphorismen über das Leben übernimmt.

Einmal sehen wir ihn im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Zur Quizshow holt Lucky ein Wörterbuch aus dem Schrank und liest die Definition des Begriffs „Realismus“ vor: die Fähigkeit, eine Situation so zu akzeptieren, wie sie ist. Ein Ruck geht durch seinen fragilen Körper, plötzlich wird sich Lucky der eigenen Sterblichkeit bewusst. Es ist der Moment, in dem der Darsteller mit seiner Rolle verschmilzt: Achselzuckend schaut Harry Dean Stanton den Zuschauer unvermittelt an. Der Debütfilm des Amerikaners John Carroll Lynch zeigt Lebens- und Sterbenserkenntnis als leise Tragikomödie.

Eine alte Frau stirbt: Wang Bing gewinnt für seine Doku "Mrs. Fang" den Hauptpreis

Ob auch die ältere Frau im Dokumentarfilm „Mrs. Fang“, für den Wang Bing den Goldenen Leoparden erhielt, ihren nahen Tod akzeptiert? Der chinesische Regisseur hält die letzten Tage der an Alzheimer erkrankten Protagonistin fest. Seine anteilnehmende Kamera zeigt minutenlang ihr Gesicht, ihr schweres Atmen, ihre tränenden Augen, während die ins Dorf angereisten Kinder schon über die Beerdigung sprechen. Ein Sterbezimmer, in das die chinesische Gegenwart einzieht.

Der chinesische Dokumentarist Wang Bing gewinnt den Goldenen Leoparden für "Mrs. Fang", einen Film über das Sterben einer an Alzheimer erkrankten alten Dorfbewohnerin.
Der chinesische Dokumentarist Wang Bing gewinnt den Goldenen Leoparden für "Mrs. Fang", einen Film über das Sterben einer an Alzheimer erkrankten alten Dorfbewohnerin.
© dpa/Flueeler

Die deutsch-französisch-chinesische Produktion, die im Rahmen einer Wang-Bing-Retrospektive auch auf der 14. Documenta in Kassel zu sehen ist, gibt dem Zuschauer den Raum und die Zeit, aus Gesprächsfetzen der Nachbarn und Verwandten größere soziale und politische Zusammenhänge abzuleiten. Für eine gute medizinische Behandlung konnte das Geld nicht aufgetrieben werden; die Kinder sind Niedriglöhner; lange lebten alle gemeinsam in der Einraumwohnung der Mutter, deren Habseligkeiten sind in Plastiktüten verstaut. Immer wieder ist man irritiert über den schroffen Umgang mit der Mutter und Großmutter. Niemand nimmt die sterbende Frau in den Arm, keine tröstenden Worte, keine Zärtlichkeit.

Szene aus dem Dokumentarfilm "Mrs. Fang", für den der Chinese Wang Bing in Locarno den Hauptpreis gewann.
Szene aus dem Dokumentarfilm "Mrs. Fang", für den der Chinese Wang Bing in Locarno den Hauptpreis gewann.
© Filmfestival Locarno

Wang Bing hat sich im Weltkino als Chronist der chinesischen Umbrüche einen Namen gemacht. In seinem Debüt „West of the Track“(2002) lieferte er Bilder von geschlossenen Stahlfabriken, von entlassenen Arbeitern, die nicht wissen, wohin sie sollen. Ohnmacht und Lethargie nehmen ihre Körper in Beschlag. Seltsam entfremdet von ihrer Trauer und ihren Sorgen wirken auch die Verwandten von Frau Fang. Nur einmal streichelt eine ebenfalls in die Jahre gekommene Nachbarin ihr über den Arm. Doch es mag unser westlicher Blick sein, der diese kleine Geste mit großen Emotionen auflädt. In „Mrs. Fang“ erlebt man aus nächster Nähe, dass es verschiedene Arten gibt, sich einem sterbenden Körper zu nähern.

Anke Leweke

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