Der Neubau der Tate Modern: London lädt ein
Kurz vor einem möglichen Brexit hat die Tate modern ihren fantastischen Anbau eröffnet – ein Haus der globalisierten Künste in Zeiten zunehmender Nationalismen.
Für die Tate Modern wäre es ein rabenschwarzer Tag, würde es tatsächlich zu dem kommen, was sich zuletzt immer mehr abgezeichnet hat: der Ausstieg Großbritanniens aus der EU. Keine Woche vorher hat das weltweit populärste Museum für aktuelle Kunst endlich seinen seit Jahren herbeigewünschten Anbau eröffnet. Um noch mehr Menschen hereinzuholen, die aktuellen Strömungen einem noch größeren Publikum zu vermitteln. Unter dem Motto „Die Kunst ändert sich. Wir ändern uns“ wurde mitten in London ein Museum neu gedacht, während so viel Briten sich versteifen und verschließen, nichts wissen wollen von Europa und Einwanderung und Internationalität.
Die zufällige Gleichzeitigkeit der Eröffnungswoche in der neuen Tate und der Abstimmung über den Brexit wirft ein grelles Licht auf die Situation. London, die internationale Stadt schlechthin, zugleich Hochburg der kulturellen Avantgarde, wird zum Kampfplatz für einen drohenden Rollback. In den letzten Tagen überschlagen sich die Zeitungen mit Stimmungsmache für ein „Leave“ oder „Remain“. Politiker, Unternehmen schalten ganzseitige Anzeigen, um die Briten kurz vorher für die eine oder andere Richtung einzuschwören. Ryan Air senkt die Flugpreise, damit im Ausland lebende Briten zum Referendum ihrer Heimat einen Kurzbesuch abstatten können.
Die Tate Modern aber steht mit ihrem trutzigen Anbau und wankt nicht, egal wie die Entscheidung beim Brexit am Donnerstag ausfallen wird. Vor 16 Jahren hätte niemand gedacht, dass dieses Museum auf der schmuddeligen Bankside eine solche Erfolgsgeschichte schreiben, ja ein komplettes Viertel umkrempeln würde. Über fünf Millionen Besucher kamen in den letzten Jahren, an den Eröffnungstagen waren es gar 143 000 Menschen. Die Erweiterung ist also nicht nur der zusätzlich benötigten Ausstellungsfläche für die enorm angewachsene Sammlung geschuldet, damit sollen auch die Publikumsmassen besser verteilt werden.
Wer dieser Tage die Tate Modern besucht, wird Zeuge eines furiosen Starts. Die Gänge, Galerien, Museumsshops, diversen Cafés und Restaurants sind überfüllt. Oben auf der neuen Dachterrasse, im zehnten Stock, drängen sich die Besucher, um die 360-Grad-Aussicht auf London zu genießen. Von hier aus versteht man sofort, warum das Switch House, das auf einem Teil des Umspannwerkes steht, ein großer Wurf geworden ist. Rundum schießen gläserne Spargel aus dem Boden, in London schreitet der Bauboom ungebremst voran, Investorengehabe bestimmt die Silhouette der Stadt.
Herzog & de Meuron, das Schweizer Architektenduo, das bereits die Umwandlung des Kraftwerks in ein Museum vollzog – damals noch behutsam, ohne aufzutrumpfen –, hat für die Erweiterung nun eine kraftvollere Sprache gewählt: um sowohl gegenüber dem Haupthaus, der ikonenhaften Architektur von Giles Gilbert Scott aus den späten Vierzigern, als auch den immer näher rückenden Wohn- und Bürotürmen zu bestehen. Nachdem die Schweizer Erfolgsarchitekten die Idee aufeinandergestapelter Glaskuben wieder verworfen hatten, besannen sie sich auf den Backstein als Baumaterial des einstigen Power House. Bereits ihrer Hamburger Elbphilharmonie verhalf er zum Erfolg, auch hier fungiert das Material als visuelle Verbindung zu den Speicherhäusern der Hafenstadt.
Für 328 Millionen Euro wurde etwas Eigenes daraus und doch dazugehörig, ein 21000 Quadratmeter großer Bau, der sich an den imposanten Kubus von Scott schmiegt und trotzdem Selbständigkeit bezeugt: eine in sich verschobene Pyramide, der ein gitterartiges Kleid aus versetzt gemauerten Backsteinen übergeworfen ist, massiv und transparent zugleich. Das Spiel der Widersprüchlichkeiten, mit Licht und Dunkelheit, mit Massivität und Leichtigkeit setzt sich im Inneren fort.
Vom Haupteingang aus, der riesigen Turbinenhalle, in der diesmal zur Begrüßung ein künstlicher Baum von Ai Weiwei und Keramikfiguren von Thomas Ruff stehen, wendet sich der Besucher wie gehabt nach links zum Boiler House, dem einstigen Kesselhaus, oder nun nach rechts zum Switch House. Den Aufstieg in den Neubau nimmt er durch die unterirdischen Öltanks von einst, in denen seit 2012 Performance beheimatet ist. Gerade dafür hatte sich der nun nach Berlin an die Volksbühne gewechselte Tate-Direktor Chris Dercon immer sehr engagiert. Ein Geruch von Öl liegt noch in der Luft. Rau präsentiert sich hier im Fundament noch der Beton, der nach oben hin mit jedem Geschoss immer feiner, immer samtiger wird.
Sonderbare Klänge locken zunächst tief hinein. Tarek Atoui gibt gerade ein Konzert auf ungewöhnlichen Instrumenten, riesige Flöten aus Kunststoffröhren, Tonschalen verschiedener Größe. Ein Video zeigt seine „Dahlem Sessions“, für die der libanesische Künstler bei der Berlin Biennale vor zwei Jahren erstmals Instrumente des Ethnologischen Museums Dahlem bespielte. Atouis Einladung ist programmatisch zu verstehen, denn in den weiteren Etagen des Switch House, ebenso im Hauptgebäude, wird eine andere Kunstgeschichte erzählt. Nicht chronologisch, als Abfolge der Heldentaten großer Männer des Westens wie noch immer allenthalben üblich ist, sondern thematisch.
Joseph Beuys steht die türkische Künstlerin Gülsün Karamustafa zur Seite, für die Kunst und Politik ebenfalls eine Einheit bildet, bei Pablo Picassos „Weinender Frau“ hängt ein Bild von Malangatana Ngwenya, das an den Unabhängigkeitskrieg von Mosambik erinnert. Das Prinzip Themenräume, „Künstler und Gesellschaft“, „Material und Objekte“, „Zwischen Objekt und Architektur“, verfolgt die Tate modern seit Anbeginn, nur wurde mit der Neueröffnung noch weiter ausgeholt, wurden gleichberechtigt Werke aus Asien, Afrika, Südamerika hinzugenommen, und – wie naheliegend – nach mehr Künstlerinnen gesucht. Die lange schon ausstehenden Würdigungen etwa von Louise Nevelson, Magdalena Abakanowicz, Lygia Pape, Marisa Merz bahnen sich hier an. Louise Bourgeois und Rebecca Horn erfahren sie bereits mit eigenen Abteilungen.
Die Tate modern macht hier einen großen Schritt, indem sie den gesamten Globus in den Blick nimmt, Marwan Rechmaouis Beton-Haus aus Beirut genauso zeigt wie den von Rachel Whiteread abgegossenen Dielenboden eines 19. Jahrhundert-Reihenhauses, das der Londoner Stadtplanung zum Opfer fiel, oder den Nachbau von Kader Attias algerischer Heimatstadt aus 300 Kilogramm Couscous. Zwar schleicht sich das mulmige Gefühl ein, dass die Parameter verloren gehen, wenn alles mit allem verglichen werden kann, aber die neue Tate modern möchte mehr als nur ein Museum sein. Sie versteht sich als Stätte der Kommunikation, wo Fragen der Gesellschaft verhandelt werden.
Noch ist der Anbau nicht vollständig übergeben. Ein ganzes Geschoss wird erst ab September 50 verschiedenen Interessengruppen zur Verfügung stehen, die hier ein Forum finden sollen. Im prosperierenden London, wo öffentlicher Raum immer rarer wird, gewinnen solche Orte der Begegnung eine besondere Bedeutung. Der kostenlose Eintritt, der für alle Museen Großbritanniens gilt, signalisiert bereits Bürgernähe. In Zeiten des Brexit aber braucht es die Öffnung mehr denn je. Egal was passiert, in der Tate Modern halten Künstler weiterhin die Türen auf.