Kultur: Literaturarchiv Marbach: Ewig grüßt die Schillerlocke
Ein Literaturarchiv sammelt den schriftlichen Nachlass von Dichterinnen und Dichtern. Doch das Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar hortet neben Handschriften und Erstdrucken auch noch ganz andere Schätze.
Ein Literaturarchiv sammelt den schriftlichen Nachlass von Dichterinnen und Dichtern. Doch das Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar hortet neben Handschriften und Erstdrucken auch noch ganz andere Schätze. Seit 1905 trägt eines seiner Inventarbücher die Aufschrift "Bildnisse und Reliquien" und verzeichnet darin neben Porträtgemälden, Büsten, Grafiken und Fotografien auch mancherlei andere Gegenstände, die aus der Hinterlassenschaft von Schriftstellern in den Besitz des Museums gelangt sind. "Erinnerungsstücke" nennt man in Marbach diese Objekte, die sich weder als Schrift- noch als Bilddokumente einordnen lassen. Ihnen hat das Deutsche Literaturarchiv seine diesjährige Jahresausstellung gewidmet.
"Literaturgeschichte ist nicht ausschließlich Textgeschichte", verteidigt Museumsdirektor Ulrich Ott die Sammelpolitik seines Hauses. Bei der Ausstellungseröffnung erinnerte er daran, dass es solche "Erinnerungsstücke" aus dem Besitz Friedrich Schillers waren, die im 19. Jahrhundert den Grundstock für das spätere Schiller-Nationalmuseum in Marbach legten. Die gesammelten Kuriosa gewährten einen aufschlussreichen Einblick in die Kulturgeschichte des Erinnerns. Zeige mir, was du von deinen Dichtern aufbewahrt hast, und ich sage dir, welchen Kultwert diese Dichter für dich und ihre Zeit haben!
Wo man sich in Marbach sonst über Vitrinen mit schwer entzifferbaren Handschriften beugt, glaubt man diesmal eher in einem ethnologischen Museum zu flanieren. Totenmasken, Kleidungsstücke, Uhren, Schreibgeräte, Tintenfässer, Koffer, Steine, Gläser, Tabakdosen, Haarlocken, Stahlhelme, eine hölzerne Tierplastik, ein eiserner Turmhahn - was ist das für eine eigentümliche Population, von der diese Dinge Zeugnis ablegen?
Es war nur konsequent, dass man mit Hermann Bausinger von der Universität Tübingen als Eröffnungsredner der Ausstellung den Vertreter einer Disziplin eingeladen hatte, die früher einmal "Volkskunde" hieß, heute aber meist als "Europäische Ethnologie" im Fächerangebot unserer Hochschulen auftaucht.
Bausinger sah in den ausgestellten Objekten Zeugnisse einer bürgerlichen Gedenkkultur, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte und die ältere religiöse und aristokratische Erinnerungskultur ablöste. Wo früher im katholischen Kult Heilige und Reliquien verehrt wurden, treten als Folge der bürgerlichen Emanzipation Dichter an ihre Stelle. Sie werden zu Kultobjekten einer säkularisierten Religiosität. Das Dichterporträt im bürgerlichen Salon ersetzt das Heiligenbild in der Kirche, die Haarlocke des gefeierten Poeten das Schweißtuch der heiligen Veronika. Und während bis zur Französischen Revolution Totenmasken und öffentliche Standbilder allein den regierenden Fürsten vorbehalten waren, erweist man in der bürgerlichen Ära auch den Dichterfürsten solche posthumen Ehrungen.
Mitte des 19. Jahrhunderts trieb diese neue Art der Heiligenverehrung bereits solche Blüten, dass sich Theodor Fontane in seinem Gedicht "Shakespeares Strumpf" zu einer wunderbaren Parodie dieses Dichterkults veranlasst sah.
Michael Davidis und Gunther Nickel haben die von ihnen gestaltete Ausstellung chronologisch angelegt. Sie beginnt mit Lessings Totenmaske - der ersten in Deutschland, die einem Dichter abgenommen wurde - und einer im versilberten Schmuckrahmen aufbewahrten Locke des Poeten. Im Zeitalter der Empfindsamkeit tauchen auch die ersten Groupies auf: Verehrerinnen, die den von ihnen angeschwärmten Dichtern eigenhändig bestickte Brieftaschen zum Geschenk machten. Außerdem kann man in Marbach ein Federmesser bestaunen, das Goethe zum Zuschneiden seiner Schreibfedern benutzte; einen Stein aus Bergkristall, der Schiller als Briefbeschwerer diente; das scharlachrote Husarenjäckchen einer Kinderuniform, die Möricke als Knabe in der Zeit der napoleonischen Kriege trug.
Der schon erwähnte eiserne Turmhahn stammt von der Kirche im schwäbischen Cleversulzbach, wo Möricke eine zeitlang Pfarrer war; er hatte ihn nach der Renovierung des Kirchturms an sich genommen und in dem Gedicht "Der alte Turmhahn" verewigt. Und dann gibt es da immer wieder Uhren zu sehen. Diese Symbole der vergehenden Zeit haben es den Dichtern offenbar besonders angetan: Theodor Körners Taschenuhr etwa und nicht zu vergessen Ernst Jüngers Sanduhren.
Die gezeigten Erinnerungsstücke seien "irrationale Reste in einer entzauberten Welt", fasst der Ausstellungsmacher Gunther Nickel seine Einschätzung der gesammelten Schätze zusammen. Während die Dichterreliquien aus dem 18. und 19. Jahrhundert eher die Verehrung der Nachwelt für ihre säkularisierten Heiligen bezeugen, dokumentiert der zweite Teil der Marbacher Schau Gegenstände aus dem Besitz von Schriftstellern, die für ihre Eigentümer selbst zu Kultobjekten wurden.
Ein Ethnologe würde wohl in beiden Fällen von Fetischen sprechen. Am deutlichsten ist das bei dem durchschossenen Stahlhelm, den Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg einem getöteten englischen Offizier abnahm und als Siegertrophäe verwahrte. Der Karl-May-Leser Jünger muss sich da offenbar vorgekommen sein wie ein Indianerhäuptling der den Skalp des erlegten Gegners an sich nimmt.
Aus dem Besitz von Bertolt Brecht zeigt die Ausstellung eine japanische Holzmaske, die der Dichter in seinem Arbeitszimmer aufgehängt hatte. Es handelt sich um einen Dämon aus der Tradition des Nô-Theaters, der Brecht zu seinem Gedicht "Die Maske des Bösen" inspiriert hat. Von der Wiener Publizistin Elisabeth Freundlich ist ein alter Koffer zu sehen, der mit seinen zahlreichen Aufklebern von Hotels und Schifffahrtsgesellschaften die Stationen ihrer Emigration aus Nazi-Deutschland dokumentiert.
Das eindrucksvollste Objekt aber, das man in Marbach bestaunen kann, stammt aus dem Nachlass von Uwe Johnson. Es handelt sich um eine etwa 50 Zentimeter lange Tierplastik aus dunkelbraunem Holz, die eine Katze darstellt. Sie stammt von Margret Boveri. Die Publizistin, mit der Johnson bis zu ihrem Tod eine komplizierte Freundschaft verband, hat sie ihm vermacht. Wenn man diese rätselhafte Skulptur, deren Herkunft unbekannt ist, mit einigen Passagen aus Johnsons Roman "Jahrestage" zusammenbringt, dann wird sie zu einer allegorischen Figur. Sie verkörpert nichts anderes als die Erinnerung selbst: "Die Katze Erinnerung, wie du sagst. - Ja. Unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender Geselle, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält."
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