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Bilanz eines musikalischen Abends: Lieder der Nacht: Von Kurt Masur bis Human League

Ein ganz normaler Abend in Berlin: Unsere Autoren haben sich Electronic Beats mit The Human League, eine Premiere an der Neuköllner Oper, Simon Rattle, Kurt Masur und Peter Maffay angehört.

ELECTRONIC BEATS MIT THE HUMAN LEAGUE IM RADIALSYSTEM

Auch nach fast dreißig Jahren „Don’t You Want Me“ im Dudelfunk haben The Human League nichts mit Achtzigerpartys, Studententrash oder der Oldie-Nacht in der Kindl-Bühne zu tun. Aber sehr viel mit dem Electronic Beats Festival, das nun schon zehn Jahre lang die Geschichte des Elektropop elegant fortschreibt und am Donnerstagabend im ausverkauften Radialsystem Jubiläum feierte.

„Dare“, das Human-League-Album von 1981, ist eine Kulturleistung. Die Band aus Sheffield verband Kraftwerk mit Abba, skandinavisch-kontinentalen Pop mit teutonischem Elektrobeat sowie nordenglischer Ironie und Melancholie. Und so liegt auf „Dare“ von „The Things that Dreams Are Made Of“ bis „Don’t You Want Me“ auch der Schwerpunkt des Auftritts, den ein beängstigend schlanker Phil Oakey mit den Sängerinnen Susan Ann Sulley und Joanne Catherall so souverän wie stimmsicher wie selbstironisch über die Bühne bringt.

Wie bedeutend The Human League wirklich sind, ist vor und nach ihrem Gig erneut zu begutachten. Die fröhliche Musikwissenschaft etwa der nordenglischen Band Delphic, eine starke Melange aus Gitarrenkrach und Elektro, ist ohne die Sequenzer-Läufe und Quäksynthies der Human League nicht denkbar. Ebensowenig wie die Musik von Roisin Murphy, die wie so viele Stars aus den Neunzigern den Synthiepop mit Techno erweitert hat. Die Festivalnacht im Radialsystem bringt sie mit einem sexy DJ-Set zum Abschluss. Markus Hesselmann

KLANGWANDLER-PREMIERE AN DER NEUKÖLLNER OPER

Man stelle sich einen Menschen vor, der alle Dinge in seiner Umgebung so deutlich hört, wie andere Menschen sie sehen. An der Neuköllner Oper machen der Komponist Peter Michael von der Nahmer und der Librettist Kai Ivo Baulitz mit ihrem neuen Stück „Klangwandler“ die Probe aufs Exempel. Doch Titelheld Jonathan, der kurz vorm Abi steht und mit seinen Eltern den altersüblichen Stress hat, ist mit dieser Fähigkeit überfordert. Er zieht sich ganz in seine Welt zurück – bis er die Bekanntschaft mit der prolligen Mimi macht.

Viel mehr geschieht nicht in diesem schwerelosen Großstadtmärchen um Wahrnehmung, Einsamkeit, Liebe und Begabung, das man trotz einer kräftigen Prise Atonalität getrost dem Genre Jugendmusical zuordnen darf. Und viel mehr muss auch nicht geschehen auf der riesigen schwarzen Kletterwand, die Schultafel, Hobbykeller, Wald und Gefängnis zugleich ist. Wie Friedrich Rau (Jonathan) und Julia Gámez Martin (Mimi) in der Inszenierung von Mario Portmann und der Choreografie von Julieta Figueroa an dieser Wand mal eine Abiprüfung, ein schüchternes Bad im See oder eine rasante Autofahrt darstellen, ist allemal virtuos, anmutig und unterhaltsam genug. Dass die innere Welt von Jonathan nicht vollständig in Experimentalklang übersetzt wird, ist kein Fehler: Akustische Fundstücke wie der Kaktus auf dem Fensterbrett oder Omas Augengläser mit den hornbrillenartig hochgezogenen Klangrändern, die Jonathan seiner Mimi präsentiert – sie genügen, um den spinnerten Kerl zu mögen. (Wieder am 11., 13./14., 18. –21. und 26.11.) Carsten Niemann

DIE BERLINER PHILHARMONIKER MIT SIMON RATTLE

Die Philharmoniker sind dann mal weg. Am Montag starten sie zur ersten Australien-Tournee in der 128-jährigen Orchestergeschichte, zehn Konzerte in 20 Tagen, inklusive Zwischenstopps in Abu Dhabi und Singapur. Erst am 9. Dezember werden sie wieder in Berlin zu erleben sein. Tagesspiegel-Kritiker Jörg Königsdorf reist mit und wird in einem Reise-Blog auf Tagesspiegel.de aktuell berichten.

Eines der Programme, mit dem die Musiker als Berlin-Botschafter auf dem fünften Kontinent unterwegs sein werden, dirigiert Simon Rattle als Abschiedsgruß an die heimischen Fans zweimal in der Philharmonie. Wenn es ihnen auch in der Ferne so gelingt wie am Donnerstag, dann legen sie wahrlich Ehre ein. 1940 entstanden Sergej Rachmaninows „Sinfonische Tänze“ in New York – dieses spätromantische Schmankerl ist genau das, was Amerikaner rich nennen: klanglich kalorienmaximiert. Ideales Virtuosenfutter also für US-Toporchester mit ihrem makellosen Sounddesign. Die Philharmoniker dagegen spielen das Stück tatsächlich zum allerersten Mal und beweisen, dass sie besser sind als perfekt – nämlich individuell. Die besten Momente haben sie überall dort, wo Rattle den Rhythmus bewusst anschärft, unerwartet ruppig nimmt und unter der edlen Oberfläche echte Leidenschaft entdeckt.

Pure Lebenslust spricht auch aus Gustav Mahlers 1. Sinfonie. Gleich der Kopfsatz wirkt so frühlingshaft, als würde man mit einer Kamera ganz dicht an eine Blumenwiese heranzoomen: Das kribbelt und krabbelt, kreucht und fleucht, summt, surrt und schwirrt, ohne dass im Gewusel der vielen autonomen Stimmen das große Ganze aus dem Blick gerät. Im anschließenden rustikalen Bauerntanz entlädt sich so viel Energie, als wollten die Musiker kollektiv abheben, ja selbst dem Trauermarsch fehlt hier jede Bitterkeit. Das ist der Soundtrack zum Aufschwung, wenn sich selbst Seufzermotive durch Akzentuierung auf dem zweiten Ton ins Licht recken! So rockt man Australien! Gute Reise und take care. Frederik Hanssen

PETER MAFFAY IN DER O2-WORLD

Es muss ein geiles Gefühl sein. 40 Jahre im Showgeschäft, wie man das früher nannte, 40 Millionen Tonträger verkauft– so nennt man es heute –, gute Musik geschrieben, gute soziale Werke getan: Und dann fährt der Mann mit dem Motorrad auf die Bühne, steigt lässig ab und taucht ein in die ausverkaufte O2- World. Peter Maffay, im vergangenen Jahr 60 geworden, schenkt den Fans das Gefühl, dass das Älterwerden eine gute Sache ist. „Tattoos“ nennt er die Zeitreise, wie das neue Album; Lieder, die sich eingebrannt haben. Auf der Haut erschlaffen und verblassen die Brandzeichen, doch die Tätowierungen des Herzens und der Seele behalten ihre Erinnerungsfrische. Peter Maffay ist ein Herzensrocker, ein deutsches „Heart of Gold“, und tief in seiner Seele ist er auch ein Schlagersänger geblieben.

Wie souverän und zart klingt das „Du“ im November 2010, das einst am Beginn seiner Karriere stand. Hinten auf der Leinwand das Autoverkäufergesicht von Dieter Thomas Heck aus der ZDF-„Hitparade“ von 1970 und die „Bravo“ mit dem verträumten Coverboy Peter aus Siebenbürgen. Mit Hertha-Müller-Zungenschlag plaudert er sich durch sein Repertoire. Man war ja dabei, irgendwie. Bei den „Sieben Brücken“ über die deutsche Grenze, der „Eiszeit“ der Nachrüstungsdebatte. Und dann war es Sommer und das Mädchen „Josie“ wurde langsam eine Frau. Sie spielen das rockig, mit vollem Springsteen’schen Gitarren-KeyboardSound, Carl Carlton ist dabei, JeanJacques Kravetz, Bertram Engel, die Veteranen deutscher Rockmusik. Ein bisschen zu viel des Guten ist es auch, mit dem Philharmonic Volkswagen Orchestra auf der Hinterbühne, wie Pommes unter einer Ketchup-Lawine. Schlank und kraftvoll der akustische Set auf einer kleinen Bühne mitten in der Halle. Das war nicht nur vergangenheitsgesättigt, das hat hungrig gemacht. Rüdiger Schaper

KURT MASUR UND DAS ORCHESTER DER KOMISCHEN OPER

Man gesteht es alten Herren gerne zu, wenn sie nostalgisch werden: Wenn sie die Stätten ihrer Jugend aufsuchen und die Stücke hervorholen, die ihnen seit Jahrzehnten am Herzen liegen. Mit seinem Konzert an der Komischen Oper erfüllt sich Kurt Masur gleich zwei Wünsche. An der Behrenstraße war er ab 1960 als dynamischer Mittdreißiger vier Jahre lang Chefdirigent, und das einzige Werk an diesem Abend, Edvard Griegs Schauspielmusik zu Ibsens „Peer Gynt“, ist ein erklärtes Lieblingsstück des Einheits-Maestros.

Und eine schöne Geste gegenüber der Komischen Oper ist es allemal, wenn Masur das Wiedersehen ausgerechnet mit einem Stück begeht, in dem ein alter Mann am Ende reumütig in seine Heimat zurückkehrt.

Dass es ansonsten über den Abend nicht viel zu sagen gibt, liegt vor allem an der Musik selbst. Die fünfzehn stimmungsvollen Episoden bieten wenig Raum für tiefschürfende Interpretationen und fügen sich auch dann nicht zum musikdramatischen Ganzen, wenn man sie durch gesprochene Textpassagen Peer Gynts (souverän: Thomas Limpinsel) verbindet. Am besten, man spielt die Wunschkonzertnummern so, wie Masur es macht: warmherzig und direkt, mit einem kernigen Streicherton als Basis, und dort, wo es möglich ist wie in der „Halle des Bergkönigs“ auch mit ein paar expressiv angeschärften Konturen in den Bässen und Bläserstimmen. Verständlich, dass die Komische Oper ihrem alten Chef etwas Gutes tun will und für die beiden Solveig-Nummern mit Malin Byström sogar einen Gast engagiert hat. Das wäre veilleicht nicht nötig gewesen, doch es geht ohnehin um anderes: Wenn sich das Publikum am Ende von den Sitzen erhebt, gilt das nicht einem Konzert, sondern einem Dirigentenleben. Ovationen, die Masur mehr als verdient hat. Jörg Königsdorf

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