Musikalisches Gesamtkunstwerk: Lied der Steppe
Eine zentralasiatische Nibelungensaga: Die Gemeinschaftsproduktion „Das Buch des Dede Korkut“ kommt nach ihrer Premiere am Dresdner Festspielhaus Hellerau noch auch nach Berlin ans Maxim Gorki Theater.
Dede Korkut ist nicht nur ein literarischer Held aus dem türkischen Mittelalter, sondern vor allem eine Art Universalgenie. Einer, der seine Weisheiten auch gern zur Laute singt und in allen wesentlichen Disziplinen des Lebens Bescheid weiß. Zum Beispiel über Frauen. Das weibliche Geschlecht, erklärt Dede Korkut sachkundig, existiere in genau vier Ausprägungen: „Eine ist der Pfosten, der das Zelt stützt; eine die Sorte, die alles verwelken lässt; eine ein Ball, gefüllt mit Klatsch“ und eine schließlich „die Sorte, die nicht hinhört, was immer man sagt.“ Im Folgenden empfiehlt der Experte den Lesern ausschließlich den „Pfosten“.
Aus seiner Sicht besitzt dies eine gewisse Logik: Schließlich dreht sich „Das Buch des Dede Korkut“ in der Hauptsache um Männer – namentlich des alten Turkvolkes der Oghusen. Sie kommen schon deshalb nicht als hauptberufliche Zeltstützen infrage, weil sie ihre Behausungen permanent in Richtung irgendeines Schlachtfeldes verlassen müssen, um kreuzgefährliche Kollegen mit übernatürlichen Kräften niederzuringen.
„Das Buch des Dede Korkut“ – eine insgesamt zwölf Einzelgeschichten umfassende Sammlung von Heldenerzählungen – besitzt in der Türkei und zentralasiatischen Ländern einen ähnlichen Status wie hierzulande das Nibelungenlied. Lediglich zwei historische Handschriften existieren von dem Stoff, der seit dem 15. Jahrhundert mündlich überliefert wird. Eine lagert im Vatikan. Die andere – gleichzeitig das älteste und einzige vollständig erhaltene Exemplar – befindet sich in der Schatzkammer der Sächsischen Landesbibliothek Dresden und gilt als eine der wertvollsten Überlieferungen fremder Kulturen in Deutschland.
Gute Gründe also für den Komponisten und Regisseur Marc Sinan und die Dresdner Sinfoniker, den Mythos in der sächsischen Landeshauptstadt auf die Bühne zu bringen: als Gesamtkunstwerk aus Musik, Text, Choreografie, Video – und als künstlerisch entsprechend aufwendiges Großprojekt. 400 000 Euro beträgt das finanzielle Gesamtvolumen der Produktion; zur Förderer-Riege gehören unter anderem der Hauptstadtkulturfonds und das Auswärtige Amt.
Maßgeblich involviert ist auch das Berliner Maxim-Gorki-Theater, dessen Chefin Shermin Langhoff bereits am Ballhaus Naunynstraße mit Sinan zusammengearbeitet hat. Gorki-Dramaturg Holger Kuhla zeichnet fürs Libretto verantwortlich. Nach der Uraufführung im Dresdner Festspielhaus Hellerau ist die Produktion ab dem morgigen Freitag im Gorki-Theater zu sehen. Marc Sinan, der selbst türkisch-armenische Wurzeln hat, beschränkt sich für sein Werk auf die achte Erzählung des „Dede Korkut“-Buches, die symbolträchtige „Kunde von Tepegöz“. Jener einäugige Antiheld ist das Resultat einer Vergewaltigung: Ein oghusischer Hirte hatte an heiligem Ort eine Nymphe geschändet. Das aus diesem Akt hervorgegangene „Einauge“ tötet beim Saugen an solidarisch dargebotenen Ersatzmutterbrüsten sogleich mehrere Ammen und beißt seinen Spielkameraden später notorisch Nase und Ohren weg. Weshalb sich sein honoriger Ziehvater Arus, der die verwaiste Kreatur zusammen mit seinem leiblichen Sohn Bassat aufziehen wollte, gezwungen sieht, Tepegöz in die Steppe zu jagen. Von seiner Nymphenmutter mit einem Ring ausgestattet, der ihn an allen Körperstellen bis aufs Auge unverwundbar macht, wird der Ausgestoßene allerdings zur existenziellen Bedrohung: An die sechzig Oghusen verspeist er täglich – bis sein „Milchbruder“ Basset schließlich mit kluger List tötet.
Idealer Stoff also, um die großen Menschheitsthemen Schuld und Sühne, Ausgrenzung und Rache, Opfer und Vergebung aufs Tapet zu bringen. Sinan und Librettist Kuhla versuchen leitmotivisch, im Mythos die Zeitgenossenschaft zu entdecken: In dem um die Märchenromantik weitgehend entschlackten Libretto kommen auch heutige Literaturwissenschaftler oder Autorinnen zu Wort, die die Tepegöz-Sage etwa auf der Folie des Genozids an den Armeniern lesen.
Dabei sitzen die Dresdner Sinfoniker zusammen mit Musikern aus Kasachstan, Usbekistan, Aserbaidschan auf der Bühne des Dresdner Festspielhauses Hellerau. Jeans treffen abendfüllend auf traditionelle Trachten, oghusische Mythen auf polyglotte Tonlagen. So will es das Konzept. Die grandiose Schauspielerin und (Jazz-)Sängerin Jelena Kuljic singt, schreit und flüstert sich als Erzählerfigur im weißen Kleid virtuos durch den Abend, dem die türkische Künstlerin Aydin Teker eine minimalistische Choreografie angedeihen lässt.
Dem Unternehmen ist durch das feierliche Schreiten, Erzählen, Musizieren eine ungeheuer große Ernsthaftigkeit eigen, die auf Theaterbühnen zurzeit eher selten zu sehen ist. Einiges wirkt auf gegenwartsgewohnte Sehnerven denn auch allzu weihevoll. Zum Beispiel, wenn sich der Musiker Jun Kawasaki bei Tepegöz’ Geburtsszene mit seinem Kontrabass auf dem Boden wälzt.
Toll aber die Grundidee: Sinan konfrontiert die Live-Aufführung immer wieder mit Videoaufnahmen asiatischer Musiker, die in ihren privaten Wohnzimmern auf traditionellen Instrumenten spielen. Gemeinsam mit dem Koproduzenten und Gründer der Dresdner Sinfoniker, Markus Rindt, hatte er sie auf ausgedehnten Reisen aufgespürt. Hier klingt der Dialog zwischen Mythos und Zeitgenossenschaft, deren Stimmen sich gern auch offensiv überlagern, tatsächlich ziemlich aufschlussreich.
Maxim-Gorki-Theater, 14. / 15.2., 19.30 und 16.2., 18 Uhr
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität