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Yasmina Rezas Roman „Glücklich die Glücklichen“: Liebesversehrte in Redegewittern

Zwischenmenschliche Verletzungen, Betrug und Selbstbetrug und angeknackste Beziehungen: Yasmina Rezas romanhafter Reigen „Glücklich die Glücklichen“.

Was ihre Figuren nicht alles über die Liebe zu wissen meinen. „Jedes Paar ist ein unergründliches Rätsel“, sagt einer. „Glücklichsein ist Veranlagungssache“, glaubt ein anderer. Und eine, die sich schon lange im Alleinsein eingerichtet hat, ist überzeugt: „Man sucht sich irgendein Gesicht aus, man schafft sich Rettungsbojen in der Zeit. Jeder möchte etwas zu erzählen haben.“ Im Innersten rumort bei ihnen allen aber etwas, dem sie nur niemals so Ausdruck verleihen würden wie der neurotische Vogel, der gesteht: „Wenn ich bei mir zu Hause bin, habe ich Angst davor, dass jemand vorbeikommen und sehen könnte, wie einsam ich bin.“

Die Weisheiten, die die Charaktere von Yasmina Rezas Roman „Glücklich die Glücklichen“ von sich geben, sind größtenteils trivial. Ganz und gar nicht trivial ist aber die Schärfe, mit der die französische Autorin sie bei der Verfertigung ihrer Allerweltsgedanken beobachtet. Dabei erhebt sie sich in ihrem szenischen Reigen nur ein winziges Stück über die 18 Männer und Frauen, die hier Kapitel um Kapitel Monologe halten. Die meisten sind klug genug, sich selbst in ihren Routinen, ihrem Hickhack und ihren Ausbruchsträumen zappeln zu sehen. Es hilft ihnen nur nichts.

Yasmina Reza hat ein feines Gespür für die Mechanik zwischenmenschlicher Verletzungen, die Glanzlosigkeit von Betrug und Selbstbetrug und die Stabilität angeknackster Beziehungen. Und: Sie hat einen gesunden bösen Blick, der die Voraussetzung ihrer Komik bildet. Patrick Grainville hat Reza im „Figaro“ einen Samuel Beckett mit Lockenwicklern genannt. Sie könnte aber auch gut als Henrik Ibsen auf Lachgas durchgehen oder als Ingmar Bergman in der manischen Phase. Denn in ihren Seelenhöllen ist der Springteufel los: Irgendwo rastet immer einer aus.

Miteinander und aneinander vorbei

Zum Beispiel Raoul Barnèche. Mit seiner Frau Hélène hat er, ein echter Spieler vor dem Herrn, vor Jahren schon einmal das Bridge-Turnier in Juan-les-Pins absolviert. Er weiß, dass es ein Fehler ist, daran erneut teilzunehmen. Denn Frauen, hat er lernen müssen, verlieren auf der Langstrecke schnell die Konzentration. Genau das geschieht auch. Das Ganze endet damit, dass Raoul aus Protest eine Spielkarte verspeist und quer über den Spieltisch reihert, das Bewusstsein verliert und erst im Hotelzimmer wieder erwacht. Bald karten die beiden auf offener Straße lautstark nach – bis Raoul von einer Zärtlichkeitsaufwallung gepackt wird. Das Stoßmich-Ziehdich-Verhältnis kommt für einen Moment ins Lot.

Robert und Odile Toscano sind ähnlich gestrickt, nur in ihren Fluchtbemühungen schon fortgeschritten. Er erwägt ein Abenteuer mit einer Sprechstundenhilfe, die sich ihrerseits für einen komponierenden Pianisten interessiert. Sie dagegen hat sich in Gestalt von Rémi Grobe schon einen Gelegenheitsliebhaber genommen, der seinerseits ein Verhältnis mit einer Schauspielerin, Loula Moreno, hat. So leben sie miteinander und aneinander vorbei, und das Bestechende ist, dass man ihre Geschicke immer auch aus der Gegenperspektive, in anderem Licht erfährt; in miteinander korrespondierenden Geschichten, die auch jenseits der 18 Sprecher durch einen festen Personenstamm verbunden sind.

Geschlechterkrieg und stiller Kampf

Gehen oder bleiben ist dabei für die meisten keine Frage. Denn weder in ihren Ehen noch in ihren Affären sind sie konsequent. „Ich will Rémi für mich behalten“, sagt Odile. „Rémi rettet mich vor Robert, vor der verstreichenden Zeit und vor allen Arten von Melancholie.“ Rémi aber sieht sie regelmäßig in ihren löchrigen Kinder- und Familienkokon zurückkehren, weshalb er noch während eines Rendezvous mit ihr vorbaut und per SMS Loula anfunkt. Bequemlichkeit und Ausbruchswille halten sich die Waage, und so verharren sie in einem ewigen Dazwischen, das ständig neue Reibereien heraufbeschwört.

Ein Glanzstück, in dem Yasmina Rezas Psychologie geradewegs ins Handgreifliche umschlägt, ist Roberts und Odiles aus dem Ruder laufender Supermarktbesuch. Sie will in der Käsethekenschlange ein Stück Morbier zurückgeben, das er zu ihrem Ärger eingekauft hat; er versucht, von ihr die Autoschlüssel zu ergattern, um schleunigst nach Hause zu kommen.

Neben dem offenen Geschlechterkrieg versteht sich Reza aber auch auf stillere Kämpfe. Hélène Barnèche etwa begegnet im Pariser Bus nach 30 Jahren Funkstille ihrem Liebhaber Igor Lorrain. „Ein verbrauchter alter Schönling“ sitzt vor ihr, dessen Körperrhythmus ihr fremd geworden ist. Doch zugleich fährt ihr sofort wieder in die Glieder, wie tyrannisch er sie einst bewachte, wohingegen ihr Raoul, mit dem sie bereits verheiratet war, eine Freiheit ließ, die sie nicht wollte. Die Schläge fallen ihr ein, mit denen Igor sie traktierte und die sie nach Kräften zurückgab, bevor sie einander anschließend im Bett trösteten. Und während sie noch an Raoul denken muss, läuft sie mit Igor auf einmal Hand in Hand über den Boulevard Raspail. Eine Frau, die nur kurz vergessen hat, dass manche Wünsche nicht vergehen wollen.

Yasmina Reza ist in ihrem theatralischen Element.

Theatralisch auch in der Prosa. Yasmina Reza.
Theatralisch auch in der Prosa. Yasmina Reza.
© Pascal Victor/ArtComArt

Yasmina Reza, 1959 in Paris als Tochter einer ungarischen Geigerin und eines iranisch-sephardischen Ingenieurs geboren, ist in „Glücklich die Glücklichen“ ganz in ihrem theatralischen Element. Sie war Schauspielerin, bevor sie 1994 mit dem Dreipersonenstück „Kunst“ zur meistgespielten Theaterautorin der Welt wurde. Unter ihren drei Prosaarbeiten, die als Roman firmieren, ist „Glücklich die Glücklichen“ die umfangreichste. Doch so leicht man die Redegewitter dieses Buchs für die Bühne aufbereiten könnte, so weit greift es, ohne die Kulissen des realistischen Romans zu errichten, vom dramatischen Augenblick in Zeiten und Erinnerungsräume aus, die sorgfältig gelesen werden wollen. Das Theatralische entsteht vor allem aus der Revue theatralischer Figuren.

Sie platzen fast vor Rededrang, und in ihrer Exaltiertheit haben sie wenig zu verschweigen – außer jene Abgründe, an die sie nicht heranreichen. Hysteriker sind sie oder histrionische Persönlichkeiten, wie sie die Internationale statistische Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation WHO definiert. Dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten oder übertriebener Ausdruck von Gefühlen, leichte Beeinflussbarkeit durch andere und labile Affekte – das sind einige Kriterien. Weiterhin suchen sie ständig nach aufregenden Erlebnissen, in denen sie im Mittelpunkt stehen und fallen durch unangemessen verführerisches Erscheinen auf. Freilaufende Klein- und Großbürger, die nur nicht hospitalisiert werden, weil sie ihr Gestörtsein anders als der 19-jährige Jacob Hutner, der vielleicht als Einziger mit sich zufrieden ist, halbwegs sozialverträglich ausleben. Der Preis dafür ist hoch: Er hält sich, wie seine Mutter Pascaline berichtet, für die Sängerin Céline Dion.

Rezas Übertreibungskunst kennt keine Grenzen

Rezas Übertreibungslust kennt kaum Grenzen. Sie bleibt aber nicht beim Skurrilen stehen. Dem einen ist der Tochter gegenüber die Hand mit der Hundeleine ausgerutscht, ohne dass er es bedauern würde. Der andere, dem Krebstod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen, liest im Krankenhaus Raul Hilbergs Studie über die Vernichtung der Juden, um sich an noch größeren Katastrophen aufzurichten. Und sein Arzt Philip Chemla, Jude wie er, ein Mann, der im Beruf nichts als Kompetenz und Humanität ausstrahlt, ergeht sich nachts in bizarren Begegnungen. An die Stelle der sexuellen Zärtlichkeiten, die er als Kind mit seinem Bruder ausgetauscht hat, sind Ausflüge in den Bois de Boulogne und andere Stricherorte getreten, wo er die Rolle des Devoten einnimmt.

„Glücklich die Glücklichen“ zitiert in Titel und Motto „Fragmente aus einem apokryphen Evangelium“, ein Gedicht von Jorge Luis Borges, der es wiederum dem Matthäus-Evangelium entlehnt hat. Cesare Paveses bewegendes Tagebuch „Das Handwerk des Lebens“ wird zitiert. Samuel Becketts „Glückliche Tage“ spuken durch die Seiten, und Philip Chemla liest Rilkes „Duineser Elegien“. Die Signale gelten also dem Höchsten. Dass Yasmina Reza dabei in den Niederungen von Paarbeziehungen herumstochert, spricht nicht gegen ihren literarischen Ehrgeiz – und ihr komisches Talent nicht gegen die Radikalität des Unternehmens. Der Panoramablick auf die Liebesgehege des großen Menschenzoos führt aber auch zu einem einverständigen Seufzen, der die Bitternis der Einzelfälle wieder aufhebt: Ach, sind wir nicht alle Liebesversehrte!

Die Komik des Pointenwunders

Zum ersten Mal hat Reza, die bisher fast ausschließlich ältere Figuren schuf, um nur ja nicht in die Verlegenheit zu kommen, sie selbst spielen zu müssen, einen Querschnitt durch die Generationen gewagt. So hampeln sie alle in ihren Leben herum, und der Leser mag sich ertappt fühlen in seinen eigenen Verhaltensweisen. In der Summe gelangt aber auch er nur zu den Erkenntnissen, mit denen sich Rezas Figuren trösten.

Das alles ist irrwitzig virtuos gemacht - zwischen überzeugend simulierter Natürlichkeit der Monologe und sichtlicher Künstlichkeit der Konstruktion. Reza hat sich dabei von Fernsehserien inspirieren lassen, in deren Episoden die Figuren abwechselnd in den Vordergrund rücken. Die Komik dieses Pointenwunders entsteht dabei meist aus zwei oder drei motivischen Einfällen, die so lange verquirlt werden, bis sich die Figuren in ihrem eigenen Textgewebe eingesponnen haben.

Amüsant auch, welche Störfaktoren dabei zum Einsatz kommen. Wenn Paola Suares, die Geliebte von Luc Condamine, darauf besteht, endlich die Wohnung des verheirateten Familienvaters kennenzu- lernen, kommt auf jeden Moment ostentativ gespielter sexueller Enthemmung ein Moment grausamer Ernüchterung. Hier steht ein Kinderbuggy, dort ein Familienfoto, und wie geschmacklos ist erst die Einrichtung! Yasmina Reza setzt solche Brüche mit sicherer Hand.

Das Hochartistische mag dazu beitragen, dass einem keine Figur wirklich ans Herz wächst. Ein entscheidender Grund, weshalb sie darüber aber nicht hinauswachsen kann, liegt darin, dass sie fast nur in ihren individuellen Konflikten erscheinen. Als ehemaliger Vorstandsvorsitzende, Politiker, Schauspielerin und Sprechstundenhilfe kommen sie aus durchaus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, doch nichts davon scheint sie in ihren Rollen festzulegen . Yasmina Reza hat erklärt, dass sie sich für wirtschaftliche und politische Belange nicht zuständig fühle. Das ist ihr gutes Recht. Es führt aber auch in die Irre, die sehr französischen Wirren, von denen sie erzählt, als anthropologische Konstante zu betrachten.

Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen. Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser, München 2014. 176 S., 17,90 €.

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