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Auszeit. Vater (Ulrich Tukur) und Sohn (Samuel Schneider).
© Studiocanal

Caroline Links Film "Exit Marrakech": Liebeslücken, Lebenslügen

Exotische Orte, vertraute Gefühle: Die Filmemacherin Caroline Link weiß ihre Zuschauer zu fesseln. In "Exit Marrakech" geht es erstmals nicht um die Selbstfindung von Töchtern, sondern um eine späte Familienzusammenführung - zwischen Vater und Sohn.

In den drei großen Filmen, die Caroline Link bislang in gemächlich gesetzten Abständen gedreht hat, ging es stets um ein Entrinnen und, behutsam, um ein Gewinnen. Und immer waren es Frauenfiguren, die Caroline Link mit der ihr eigenen Aufmerksamkeit in die große Lebensprüfung schickte. In „Jenseits der Stille“ (1996) muss die Tochter gehörloser Eltern abseits der Fürsorge für ihre Familie in ihre eigene Welt der Hörenden hineinwachsen. In „Nirgendwo in Afrika“ (2001) wächst die Tochter jüdischer Emigranten in der kenianischen Savanne heran, während die Ehe der Eltern langsam erodiert. „Im Winter ein Jahr“ (2008) schließlich führt, schärfer im Ton, aus beengten Verhältnissen heraus: Eine junge Frau bricht das Schweigegebot ihrer Familie und legt ein schmerzhaftes Geheimnis frei.

Ganz neue Wege scheint nun „Exit Marrakech“ einzuschlagen. Von einer reichlich späten Familienzusammenführung erzählt die Regisseurin, nicht in erster Linie vom Aufbruch ins eigene Leben. Und die Protagonisten sind nicht Töchter jedweden Alters, sondern Vater und Sohn. Oder besser: Vater ohne Sohn, neben Sohn, mit Sohn, der zunächst zögernd und grundvorsichtig einen Vater gewinnt, seinen Vater. Und umgekehrt gewinnt der Vater den Sohn, weil Nähe und Versöhnung nicht ohne Wahrhaftigkeit und Reue zu haben sind. So kann es gehen: das Gewinnen ohne den Preis des Entrinnens, ausnahmsweise.

Eigentlich ist Ben (Samuel Schneider), dem in Marrakesch ein paar Kerzen zum 17. Geburtstag entzündet werden, strukturell elternlos. Als Scheidungswaise ins Internat weggetan, hält er Kontakt zur Mutter (Marie-Lou Sellem), einer viel verpflichteten Cellistin, überwiegend per Telefon. Der Vater (Ulrich Tukur), ein erfolgreicher Theaterregisseur, driftet seit Ewigkeiten in seiner eigenen Ego-Welt herum. Na und? Bens Familie sind die Mitschüler, und wenn denn unbedingt ein Ersatzvater her muss, dann wäre das der Direktor (Josef Bierbichler). Dessen freundlich-ruhige Fürsorge muss einer wie Ben allerdings sicherheitshalber immer gleich lustig ironisieren.

Nun drohen die Sommerferien, und während die Buddys in Nizza Party machen, geht es zu dem fremden Vater nach Marrakesch. Der tingelt dort im Rahmen des deutsch-marokkanischen Kulturaustauschs mit seiner „Emilia Galotti“-Inszenierung durchs Land – „deutsche Klassikerscheiße“, wie Ben findet. Und extrem weit weg von der Realität Marokkos, wie er ebenfalls schnell weiß, weil er sich abseilt aus der eitlen Papa-Welt, rein in das wilde Leben dieser Fremde. „Realität!“ ist Bens Devise, der Vater hält ihm „Fantasie!“ entgegen. Auch wenn die sich bei dem weltmüden Snob darin erschöpft, Paul Bowles zu lesen, am Hotelpool.

Alle Voraussetzungen also für eine gewöhnliche deutsche Coming-of-AgeStory, mit sorgfältig angerührten Konflikten, Komödien-Prisen und vor allem elternseits üblichem Karikaturenpotenzial. „Exit Marrakech“ aber entwischt der Falle, von Anfang an. Wie Caroline Link überhaupt ein Vergnügen daran hat, Standardsituationen flink umzubiegen in Eigenes. Zwei schwule Theaterleute führen den hübschen Ben in einen Club: aha, ein Coming-out am Horizont! Ben geht allein mit Papas teurer Kamera durch Nebenstraßen: Klar werden ihm Straßenjungs gleich das Ding klauen! Nichts da, und schon ist der Zuschauer reif für das eigentliche Abenteuer.

Mit jugendlicher Verve und einiger Naivität stürzt sich Ben in dieses Marokko, und tatsächlich öffnet sich einem das Land, weil der Film es ganz mit Bens Augen sieht, wie zum ersten Mal. Mehr noch: Hier entdeckt ein sehr junger Mensch, sich selbst überlassen, die Welt. Das ist der erste Zauber dieses Films – und er schließt eine feine, herbe Liebelei zwischen Ben und einer jungen Prostituierten (Hafsia Herzi) ein; auch dies eine Episode, die letztlich scharfkantig am Klischee vorbeizielt. Der andere Zauber betrifft den Vater. Wie seine Coolness augenblicksweise erschüttert wird, weil er sein Tourneeprogramm über den Haufen werfen und stattdessen den ihm so unbekannten Sohn aus marokkanischen Bergdörfern herauspauken muss – und zugleich bleibt dieser nicht grundlos selbstbewusste Seelenkoloss von Mann durchaus er selbst.

Nein, hier wird niemand zugunsten von niemandem verraten. Beide Lebenskonzepte – das gegen alle Parolen romantische des Sohnes und das grundrealistische des Vaters – gelten nebeneinander und greifen ineinander wie sauber gestimmte Stimmen, stets für sich und zusammen lesbar wie eine Partitur. Da hätte es manches Tremolo, etwa die immer bedrohlichere Zuckerkrankheit des Jungen, und den Paukenschlag eines heftigen Zwischenfalls gar nicht gebraucht. Aber auch diese dramaturgischen Elemente funktionieren reibungslos, weil Links Drehbuch ihnen nie das Äußerste abpresst. Noch einmal und noch einmal biegt die Filmemacherin ab auf jenen Nebenweg, auf dem man sein eigenes und das Wort des anderen versteht.

Sie sind sich ähnlich, dieser kreative Vater und sein Sohn, dessen erste Kurzgeschichten der Internatsdirektor freiweg loben kann und die der Vater, fein rivalisierend, „ein bisschen sentimental“ findet. Sie teilen verschüttete Rituale, die unvermutet zum Einsatz kommen, das anrührend leise Singen von „Der Mond ist aufgegangen“ zum Beispiel. Auch muss der Vater sich nicht gönnerhaft an seine eigene Jugend erinnern, um die des Sohnes zu erfühlen, und irgendwann sagt er: „Eigentlich hab’ ich dich komplett verpasst. Deine ganze Kindheit. Jetzt brauchste mich auch nicht mehr.“ Und wenn der Sohn nun lapidar „Stimmt!“ antwortet, ist das ein Ende oder ein Anfang?

So scheinbar beiläufig treibt „Exit Marrakech“ seinem innersten Ziel entgegen – das Finale am Meer ist dann nicht sehr viel mehr als ein Finale am Meer – und trifft damit die Lebenslügen mindestens einer Generation arbeits- und karrierewütiger Väter ebenso wie die Lebens- und Liebeslücke jener Kinder, die mit nur einem Elternteil aufwachsen. Der ausgezeichnet zurückhaltend spielende Ulrich Tukur, der im Älterwerden noch einmal besser und besser zu werden scheint, steuert dieser Tage in Interviews Autobiografisches dazu bei. Davon zu wissen, mag von seiner Filmfigur ablenken – und erklärt vielleicht doch eine der zahlreichen spezifischen Tiefen dieses Films, jene substanzielle Glaubwürdigkeit, die er inmitten seiner ebenso offenkundigen Lust auf Magie entfaltet.

Und Marokko? Ist es nur die – von Kamerafrau Bella Halben berückend fotografierte – Kulisse abendländischer Befindlichkeitserforschungen, wie Literatur und Kino sie zur Genüge kennen? Nur der Hintergrund für geistig tiefergelegte Roadmovies, die spätestens angesichts der unendlichen Wüste ewige Fragen stellen? Auch hier hält sich der Film ans Unsentimentale. Ben, der in den marrokanischen Städten und Dörfern mit seinem Skateboard unterwegs ist, bis er es dann doch verschenkt, will in der Wüste vor allem Sandski fahren. Er ist jung. In seinen Augen aber wird fortan auch die Erinnerung an die Wüste sein.

Ab Donnerstag in den Berliner Kinos Blauer Stern Pankow, Capitol, Cinemaxx, Cineplex Spandau, Cinestar Tegel, Colosseum, Delphi, International, Kulturbrauerei, Titania Palast und Yorck

Jan Schulz-Ojala

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