Requiems von Mozart bis Mansurian: Letzte Unruhe
Musik für die Toten: das Requiem als liturgische Totenmesse, historisches Gedenken und politische Anklage. Bewegende Kompositionen, von Mozart bis Mansurian.
Das kürzeste Requiem der Welt dauert keine Sekunde und hat nur einen symbolischen Klang. Mit Notenzeichen blitzt es über den Bildschirm der zweiten Pokémon-Generation: als eine von 25 Lärmattacken, die anders als der Urgesang, die Schaumserenade oder das Schuppenrasseln binnen vier Spielzügen bei allen nicht immunisierten Pokémons zum Tode führt. Unscheinbarer könnte dieses Requiem, wie es im Französischen heißt (auf Englisch Perish Song, auf Deutsch Abgesang), nicht vonstattengehen. So obszön es inmitten all der religiös ausgeglühten, von der liturgischen Tradition aber noch aufgeladenen Requiems unserer Zeit wirken mag, ist es doch auch das Sinnbild einer virtualisierten Kriegsführung mit Cyberschlägen und Drohnen, an deren unheimlicher Lautlosigkeit sich bisher kein Komponist versucht hat.
Wie viel spektakulärer dagegen die verstörendste Totenmesse der letzten 50 Jahre, Bernd Alois Zimmermanns 1969 uraufgeführtes „Requiem für einen jungen Dichter“. Auf die Totalitarismus- und Weltkriegsschlachtfelder des 20. Jahrhunderts antwortet es mit einer eigenen Materialschlacht. Drei Chöre, ein opulent besetztes Orchester, zwei Sprecher und zwei Solisten, eine Jazzband, Zuspielbänder mit Düsenjägerkrach und Panzergedröhn sowie die Stimmen von Joseph Goebbels und Alexander Dubmek überlagern sich zu einer endzeitlichen Collage, durch die Wittgenstein-, Grundgesetz- und Mao-Zitate schwirren. Zimmermann nennt sein mit Kyrie-Schreien und „Internationale“-Fetzen versetztes Musik- und Textgebirge ein „Lingual“, auch mit Blick auf die verwendeten Verse von Sergej Jessenin, Wladimir Majakowski und Konrad Bayer. An der Verzweiflung dieser drei von eigener Hand gestorbenen Dichter nahm sich der zusehends depressive Zimmermann selbst ein Beispiel: Im August 1970 suchte auch er, mit nur 52 Jahren, den Tod.
Die Finsternis lässt sich nicht weiter steigern
An eine weitere Steigerung der Mittel ist seither nicht zu denken. Die Zertrümmerung der ohnehin seit Generationen aufgeweichten Form – immerhin gestattet sich Zimmermann am Schluss ein „Dona nobis pacem“, wo im Agnus Dei sonst das „Dona eis requiem“ erklingt – lässt sich kaum überbieten. Kein stärkerer Funke Hoffnung ließe sich einer noch tieferen Finsternis abpressen: Sie würde sich selbst verschlingen. Hinter solche Kulminationspunkte kann man nur zurückgehen. So wie Wolfgang Rihm in seinen jüngst bei der Münchner musica viva uraufgeführten „Requiem-Strophen“ die alles schroff Auseinanderstrebende mit geradezu romantischer Inbrunst einem musikalischen Fluss einverleiben.
Rihm ist weniger auf den Rückbau avantgardistischer Schallmauern aus als auf die Vergegenwärtigung von Traditionen, wie sie ihm in Gestalt der Trost-Requiems von Gabriel Fauré und Johannes Brahms vor Augen stehen, gekreuzt mit seiner persönlichen Klangrede und Texten von Rainer Maria Rilke, Johannes Bobrowski und Hans Sahl. Rihm führt ins Großorchestrale, was er 2009 in „Et Lux“ (Aufnahme bei ECM) zunächst kammermusikalisch für ein Vokal- und ein Streichquartett erkundete.
Und doch gibt es derzeit nichts Demütigeres, Innigeres und Ergreifenderes als das 2011 uraufgeführte Requiem des 1939 geborenen armenischen Komponisten Tigran Mansurian im Gedenken an die Opfer des türkischen Völkermords an seinen Landsleuten zwischen 1915 und 1917. In einer herausragenden Ersteinspielung seiner Auftraggeber, dem Rias Kammerchor und dem Münchener Kammerorchester, ist es soeben bei ECM erschienen. In der prononcierten Reduziertheit seines Satzes, die mit einem vierstimmigen Chor, ausschließlich Streichern, einem Bariton (Andrew Redmond) und einer Sopranistin (Anja Petersen) auskommt und nur die kanonischen lateinischen Texte vertont, kann man es für restaurativ halten. Zugleich würde man die Raffinesse unterschätzen, mit der Mansurian die monophonen, an den Modi seiner orthodoxen Kirche mit ornamentalen Schlenkern ausgerichteten Grundmelodien mit durchaus zweideutigen, viele harmonisch klar definierte Dreiklänge in Nebentonarten öffnenden Zusätzen versieht, ohne schmerzliche Dissonanzen zu bemühen.
Vor allem muss man die unterschiedlichen Sinngehalte berücksichtigen, die der römisch-katholische und der apostolisch-orthodoxe Glaube demselben liturgischen Text verleihen. Während die Missa pro defunctis den mehr oder weniger unmittelbaren Übergang der verstorbenen Seele in die Ewigkeit beglaubigt, erinnert das armenische Hokehankist 40 Tage nach dem Tod eines Menschen und anschließend nach Bedarf im Jahresabstand daran, dass erst mit der Wiederkunft Christi der Eintritt möglich wird.
Katholische Liturgie, apostolischer Glaube
Mansurians Requiem gilt ganz traditionell dem Heil der Verstorbenen, aber in der Notwendigkeit, das Gedenken rituell zu wiederholen, liegt etwas Politisches. Durch seine kulturelle Zwittergestalt, die den Tod sowohl als unvermeidlich individuelles wie als vermeidbar menschengemachtes Schicksal zeigt, ergänzt es Krzysztof Pendereckis „Polnisches Requiem“ im Gedenken an „Solidarnodk“ oder Benjamin Brittens „War Requiem“.
Der Musikwissenschaftler Robert Chase schätzt die Zahl der Requiem-Kompositionen auf 2000 bis 2500. In seinem 2003 erschienenen „Guide to Requiem Music“ namens „Dies Irae“ (Scarecrow Press 2003) gräbt er sich in 15 Kapiteln auf über 600 Seiten durch die gesamte Gattungsgeschichte: von der Gregorianik über das Barock bis zu den serbisch-orthodoxen und armenisch-orthodoxen Varianten. Es bleibt ein winziger Ausschnitt: In einem 40-seitigen Appendix listet er alle Requiem- Werke oft bekannter Komponisten auf, die er nicht behandeln konnte.
Der Grund dieser Schaffenswut liegt nicht im Thematischen allein. Sie geht auch auf die Lust zurück, sich mit den Größten zu messen. Schon Johannes Brahms hatte es auf seinen Durchbruch angelegt, als er 1867, im Alter von 33 Jahren, die Wiener Öffentlichkeit mit den ersten drei Sätzen seines mit lutherischen Bibeltexten versehenen „Deutschen Requiems“ konfrontierte: Er, der nur ein diffuses Verhältnis zu Religiösem besaß, hatte bis dahin nichts Maßgebliches komponiert. Heute gilt es als eines seiner besten Werke.
Mozart war nur ein Jahr älter als Brahms, als er 1791 starb und sein „Requiem“ unvollendet hinterließ. Schon wenige Jahre später genoss es den Ruf eines Gipfelwerks der europäischen Kunstmusik. Nicht zuletzt eine legendäre Rezension von E.T.A. Hoffmann verschaffte ihm den Rang des Höchsten, was man innerhalb kirchlicher Formen hervorbringen könne und für „glühendste Andacht“ und „heiligste Verzückung“ sorge.
Ligetis Requiem untermalt "Godzilla"
Von diesen Erhabenheitsgefühlen kann bei György Ligetis 1965 uraufgeführtem „Requiem“, dem im Jahr darauf ein ätherisches „Lux aeterna“ folgte, keine Rede mehr sein. Unter den Werken der Neuen Musik hat es sich mit seinen hitzigen Zacken, seinem Willen zu Übertreibung und Verzerrung in Musik und Sprache sowie seiner Evokation apokalyptischer Schrecken als besonders haltbar erwiesen – auch außerhalb der Konzertsäle. Stanley Kubrick verwendete das „Dies Irae“, den Tag des Jüngsten Gerichts, in seinem Film „2001 – Odyssee im Weltraum“. Das „Kyrie“ begleitete zuletzt Gareth Edwards’ „Godzilla“ von 2014.
Ligeti, der entschieden agnostische Jude, betreibt indes weitaus mehr als düstere Klangmalerei. Ein doppelter politischer Stachel weckte in ihm den Wunsch, ein Requiem mit liturgischen Anklängen zu komponieren. Er war den Nazis und den Sowjets im Krieg durch puren Zufall entkommen. Das kommunistische Friedensregime erschien ihm kaum weniger schreckensreich. In den Jahren 1948/40 – Ligeti führte die Studentengewerkschaft der Budapester Liszt-Akademie – bat ihn die Geheimpolizei, neun offen katholische Kirchenmusiker, genau ein Prozent der Studentenschaft, zu denunzieren, um sie von der Hochschule zu verstoßen. Er trat von seinem Amt zurück und schloss sich aus Solidarität einem Kreis militanter Katholiken um János Bartos an.
Es ist wohl kein Zufall, dass einige der stärksten Requiems aus östlichen Regionen stammen, in denen politische Tyrannei und unterdrückte Spiritualität eine besondere Spannung erzeugten. Sie äußert sich auch in einem Stilkampf, der sich bei vielen Komponisten zunächst in einem hemmungslos avantgardistischen Fortschrittsdenken Bahn brach, um dann in die Kanäle zuweilen archaisierender Tongestaltung zurückzufließen. Das gilt biografisch in unterschiedlichem Maß für Tigran Mansurian, den Esten Arvo Pärt oder den Georgier Giya Kancheli.
Ex oriente lux
Die womöglich glücklichste Verschränkung beider Tendenzen findet sich in den Stücken, die der Wolgadeutsche Alfred Schnittke Mitte der 70er Jahre nach seiner religiösen Wende komponierte, lange bevor er 1990 seine Professur in Hamburg antrat. Sein 14-sätziges „Requiem“ ist das erste bedeutende Zeugnis dieses Aufbruchs. Es bringt gregorianische und orthodoxe Chormelodien zusammen mit Orgelclustern, elektrischer Gitarre, Bass und Schlagzeug.
Schon Pendereckis bruchlose Schönheit lehnte Schnittke als allzu westlich ab. Er suchte nach der Verdunklung harmonischer Klarheiten und bekannte sich zu einem „ausufernden Ausdruckswillen, der diesem Werk den Charakter eines heftigen Bekenntnisses verleiht, dabei aber gleichwohl bestimmte melodisch-harmonische Formeln in ihrer hieratischen Objektivität benutzt. Derartige Doppeldeutigkeit ist ein russisches Erbe, in dem zunehmend auch der Westen sich wiedererkennt.“ Ex oriente lux: In den vergangenen 40 Jahren ist dieses Licht noch heller geworden.