200 Jahre Waterloo: Letzte Flucht in die Nacht
Eine Schlacht, die wie keine andere Geschichte schrieb: Vor 200 Jahren endete Napoleons Ära in der grausamen Schlacht von Waterloo. Hier entschied sich nicht nur Napoleons Schicksal, sondern das ganz Europas.
Falsche Zähne wurden noch Jahre nach dem Sieg über Napoleon „Waterloo-Zähne“ genannt. In der Nacht nach der Schlacht sind Plünderer auf dem Schlachtfeld unterwegs, ziehen den Toten und Verwundeten ihre Kleider aus, nehmen ihnen Geld und Ringe ab, brechen mit Zangen ihre Zähne heraus. So brutal und barbarisch, wie tagsüber gekämpft wurde, wird nun auch geraubt. Das Schlachtfeld, vier mal vier Kilometer groß, ist buchstäblich blutgetränkt.
Der britische Major Harry Smith erinnerte sich später: „In Waterloo war das gesamte Feld von rechts nach links eine einzige Masse von Leichen. An einem Ort, rechts von La Haie Sainte, lagen die französischen Kürassiere buchstäblich in einem Stapel übereinander; viele unverletzte Soldaten lagen unter ihren Pferden; andere waren schrecklich verwundet, oft weil ihre Pferde auf ihren geschundenen Körpern wüteten.“
Die Schlacht von Waterloo, bei der heute vor 200 Jahren, am 18. Juni 1815, eine Allianz von englischen, preußischen und holländischen Truppen Napoleons Armee besiegte, hat 11 000 Gefallene, 35 000 Verwundete und 10 000 tote Pferde hinterlassen. Sie war ein Massaker. Trotzdem gilt Waterloo bis heute als Symbol der Befreiung. Denn in dem belgischen Dorf, das strategisch wichtig auf dem Weg von Paris nach Brüssel liegt, ist Napoleons Griff nach der Weltherrschaft endgültig gescheitert. Und auf eine zwanzigjährige Kriegsperiode in Europa sollte ein langer Frieden folgen.
Ein Untergang und ein Neuanfang, den Abba jubelnd in ihrem Song „Waterloo“ besingen, mit dem sie 1974 den Eurovision Song Contest gewannen: „My my, at Waterloo Napoleon did surrender / Oh yeah, and I have met my destiny in quite a similar way.“ Mancher Anhänger eines Föderalsystems sieht in Waterloo sogar den Ort, an dem die heutige Gestalt Europas entschieden wurde, das statt von einer Zentralmacht von einer Vereinigung unabhängiger Staaten regiert wird. So nennt der britische Finanzminister George Osborne das Ergebnis der Schlacht einen „eindrucksvollen Sieg der Koalitionskräfte über ein altes, diskreditiertes Regime“. Und der „Times“-Leitartikler Ben Macintyre behauptet, ohne Waterloo „würden wir heute alle Französisch sprechen“.
Auftritt einer dickbäuchigen, kurzhaarigen Gestalt
Das ist Unsinn, denn Napoleon hätte den Krieg, den er noch einmal vom Zaun gebrochen hatte, unmöglich gewinnen können. Im März 1815 war er, begleitet von tausend Soldaten, aus der Verbannung auf Elba nach Frankreich zurückgekehrt. Seine Mission: Frankreichs Glorie und Grandeur wiederherstellen. Bei den Truppen wird Bonaparte noch immer verehrt, ganze Regimenter schließen sich ihm an. Der „Flug des Adlers“ führt Napoleon bis nach Paris, wo er den „dicken Ludwig“, den Bourbonenkönig Ludwig XVIII., vertreibt und sich erneut zum Kaiser macht. Einst hatte der Korse halb Europa erobert. Doch nun ist er ein Getriebener. Er braucht Zeit, um seine Herrschaft zu sichern, ist aber gezwungen zu kämpfen. Auch physiognomisch hat er sich verändert.
„Den gut aussehenden, schlanken jungen Mann gab es nicht mehr, er war von einer dickbäuchigen, kurzhaarigen Gestalt mit schlaffem Kinn ersetzt worden“, schreibt der britische Schriftsteller Bernard Cornwell in seinem Bestseller „Waterloo. Eine Schlacht verändert Europa“. Napoleon setzt darauf, dass die Allianz seiner Gegner England, Österreich, Russland und Preußen, die sich beim Wiener Kongress bereits heillos zerstritten haben, bald zerfallen würde. Aber die Kontrahenten lassen ihre Armeen in Richtung Frankreich vorrücken.
In seinen Memoiren hat sich Napoleon als Opfer feindlicher Aggressoren geschildert: „Ich habe immer nur erobert, um mich zu verteidigen. Ich war gezwungen zu töten, um nicht selber getötet zu werden.“ Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun. Krieg war für ihn nicht bloß die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, er war für ihn auch eine Stimulanz, beinahe eine Sucht. Napoleon eiferte seinem Vorbild Alexander dem Großen nach. Der Krieg, glaubt Cornwell, war Napoleons „größte Liebe, denn er verband die Erregung höchster Gefahr mit dem Freudenrausch des Sieges“.
Wiesen, übersäht mit Leichen
Napoleon entscheidet sich für einen Präventivschlag. Er setzt sich am 12. Juni mit seinen Truppen von Paris aus in Bewegung. Er will die britische und die preußische Armee angreifen, bevor die österreichische und die russische Armee die französische Grenze erreichen. „Mit Beharrlichkeit werden wir siegen“, verkündet er seinen Soldaten. Bonaparte zieht mit 125 000 Mann und 350 Kanonen ins Feld. Seine Gegner verfügen über 210 000 Mann und 430 Kanonen. Gewinnen kann der Kaiser nur, wenn er die vom Duke von Wellington geführten englischen Truppen und die vom „Marschall Vorwärts“, Gebhard Leberecht von Blücher, befehligten preußischen Verbände trennen und nacheinander schlagen kann.
„Ich wollte, es würde Nacht oder die Preußen kämen!“ Wellingtons historisch nicht verbürgter Stoßseufzer hat es zur stehenden Redewendung gebracht. Die Preußen kamen noch bevor es Nacht wurde, und sie brachten den Sieg. Wellington kannte das Schlachtgelände, klug hatte er seine Hauptlinien auf der Kuppe eines Hügels postiert und die Reserven dahinter versteckt. Wütend attackierten die Franzosen in immer neuen Wellen, doch zwei zu Festungen ausgebaute Gehöfte, Hougoumont und Le Haie Sainte, trotzten lange dem Ansturm.
Ein Verteidiger des Bauernhofes Hougoumont, der deutsche Soldat Johann Leonhard, berichtet: „Der Kugelhagel, der auf die Franzosen niederging, war so entsetzlich, dass die Wiese schon bald mit Leichen übersät war.“ Die 400 Soldaten, die sich im Meierhof La Haye Sainte verschanzt hatten, „hielten Napoleon lange genug auf, um der Schlacht die entscheidende Wendung zu geben“, schreibt der britische Historiker Brendan Simms in seiner Studie „Der längste Nachmittag“.
Eine Niederlage, die Geschichte macht
Ob die tapfer standhaltenden Briten oder die sich rechtzeitig durchkämpfenden Preußen die Schlacht von Waterloo entschieden haben, ist bis heute umstritten. Im Ersten Weltkrieg hatte der Berliner Historiker Julius von Pflugk-Harttung Waterloo zum „Sieg germanischer Kraft über französisches Ungestüm“ erklärt. Aber Geschichte gemacht hat Waterloo eher als monumentale Niederlage. Napoleon ist der Verlierer, mit seinen Fehlentscheidungen hat er für eine Niederlage gesorgt, die zu seinem persönlichen Untergang wird. Er flieht in einer Kutsche vom Schlachtfeld, wird von preußischen Truppen eingeholt und entkommt, Hut, Degen und ein Säckchen Diamanten hinterlassend, auf einem Pferd in die Nacht.
Seine Herrschaft der Hundert Tage endet mit der endgültigen Verbannung auf die Südatlantikinsel St. Helena. Dort schreibt Napoleon seine Memoiren, entschlossen, „dem zivilisierten Europa zu beweisen, was eine große Seele im Unglück vermag“.
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