Opernpremiere: Legende mit Schrecken
Teuflisch flach: Generalmusikdirektor Donald Runnicles und Choreograph Christian Spuck bringen Hector Berlioz’ „La Damnation de Faust“ auf die Bühne der Deutschen Oper Berlin.
Eine Zumutung. Eine Anmaßung. Christian Spuck verweigert dem Publikum bei Hector Berlioz’ „La Damnation de Faust“ in der Deutschen Oper die Pause. Dabei hat das Werk gar keine stringente Dramaturgie, die ein konsequentes Durchspielen erzwingen würde, nicht einmal einen roten Handlungsfaden. „Dramatische Legende“ nennt der Komponist seine Version von Goethes „Faust“, die Uraufführung leitete er selber in konzertanter Form im Dezember 1846 in Paris, erst ein halbes Jahrhundert später wurde in Monte Carlo der Versuch gewagt, das Stück auf die Bühne zu bringen.
Berlioz war der mutigste, maßloseste Tonsetzer seiner Epoche, im sinfonischen Bereich wie in der Oper hat er alle Konventionen gesprengt. Viele seiner Werke blieben Torsi, Experimente, Denkanstöße für nachfolgende Generationen. Dazu gehört auch sein „Faust“. Eigentlich ist dieses Werk uninszenierbar, keine Figur wird hier ordentlich eingeführt, nichts nachvollziehbar hergeleitet. Die assoziative Szenenfolge bewegt sich in der Nähe dessen, was heute „postdramatisches Theater“ genannt wird.
Daraus folgt aber auch, dass der Ein- und Ausstieg jederzeit problemlos möglich ist. Und doch fesselt Christian Spuck seine Zuschauer 135 Minuten lang an ihre Sessel. Wer sich das Recht dazu herausnimmt, muss inhaltlich schon eine Menge anzubieten haben.
Wenn Regisseure Pausen streichen, erliegen sie fast immer einer doppelten Fehleinschätzung. Zum einen halten sie ihre Arbeit für so zwingend, so dicht und packend, dass keine Unterbrechung zu dulden ist. Wenn aber das Konzept tatsächlich so stark ist, haben sie dann aber wirklich Grund zu der Annahme, dass es die Leute nach einer Pause nicht wieder genauso fesseln könnte wie im ersten Teil. Entgegen der weit verbreiteten Theatermachermeinung ist die Mehrheit der Kartenkäufer nämlich nicht in erster Linie darauf erpicht, in der Zeit zwischen den Akten mit dem Sektglas in der Hand Smalltalk zu betreiben und dabei ihre neue Abendgarderobe vorzuführen.
Viele Menschen nutzen die Pause, um über das Gesehene nachzudenken, sich mit anderen auszutauschen. Manchmal ergibt sich daraus ein ganz neuer Blickwinkel für das Folgende, in jedem Fall betritt man den Saal erfrischt, mit geschärften Sinnen und regenerierter Konzentrationskraft.
Christian Spuck interessieren die Bedürfnisse der Besucher nicht. Er lässt durchspielen. Notgedrungen bleibt der Betrachter sitzen – und erlebt, während seine Sitzhöcker sich langsam in die Milz bohren, einen Triumph. Ob Chor, ob Orchester oder Solisten, musikalisch stimmte am Sonntag bei der Premiere einfach alles. Um auch optisch sinnfällig zu machen, dass dieser „Faust“ ein Zwitter aus Konzertstück und Musiktheater ist, reiten die Musiker wie auf einer Welle durch den Graben: Linkerhand bilden Flöten und Oboen die Schaumkrone, dann geht es stufenweise hinab. Unten gruppieren sich die Streicher um Generalmusikdirektor Donald Runnicles, rechts schießen die Pulte wieder hoch bis auf Bühnenhöhe: Hörner, Trompeten, Posaunen, Tuba – und als finaler Blickfang vier goldene Harfen.
Eine sinnliche, leuchtende Farbenpracht entlockt der bekennende Berlioz- Fan Runnicles der Truppe – vor allem aber gelingt es ihm, trotz der Höhenunterschiede ein einheitliches Klangbild herzustellen. Oben auf der Bühne absolvieren die von William Spaulding vorbereiteten Chormassen einen stilistischen Parforceritt. Sie stellen Bauern und Soldaten, Studenten und Kleinbürger, teuflische Geister und fromme Katholiken dar, immer bejubelnswert differenziert, im Auftrumpfen wie im kultivierten Pianissimo.
Eine gute Figur macht Klaus Florian Vogt bei seinem Ausflug ins französische Fach: der helle, jungenhafte Lohengrin-Tenor schmiegt sich mühelos Kantilenen des Titelhelden an, die Textverständlichkeit ist vorbildlich. Clémentine Margaines Marguerite hat jugendlichen Charme, anrührend innig gelingt ihr Dialog mit der szenisch präsenten Englischhornistin, wenn sie „d’amour l’ardente flamme“ besingt, das Liebesfeuer, das sie verbrennen wird. Samuel Youn trägt Frack als Méphistophélès und präsentiert sich passend dazu auch vokal geschmeidig-seidig. Nur der verdiente Szenenapplaus bleibt aus – weil der Regisseur das Publikum mit seinem pausenlosen Spiel in eine kunstreligiöse Erstarrung gezwungen hat, bei der sich niemand traut, spontan Begeisterung zu zeigen.
Ganz am Ende, wenn die rätselhafte, hier szenisch ganz ungebrochen kitischige Apotheose verklungen ist, wird der Teufel laut auflachen wie ein affektierter Schmierendarsteller. Ein Witz ist allerdings auch Christian Spucks Inszenierung. Putzig, pappig, schwach in der Personenführung – und noch schwächer in den Tanzeinlagen. Dabei ist der Mann Choreograf, hat lange das Stuttgarter Ballett geleitet, wirkt in der gleichen Funktion nun in Zürich.
Bevor der erste Ton erklingen darf, taucht Spuck den Zuschauerraum prätentiös ins Stockdunkel. Als endlich fahles Licht aufdämmert, meint man, ein Déjà-vu zu haben: Emma Ryotts Bühnenscheibe erinnert stark an Wieland Wagners Ästhetik der Fünfzigerjahre. Zinnsoldaten in properen Uniformen werden später niedliche Modellbauhäuschen darauf platzieren.
In dieser Puppenstuben-Deko wird die Szene um Szene brav nachbuchstabiert, eine lineare Handlung behauptet, die ja gar nicht existiert. Falltüren klappen auf und zu, Prozessionen kaschieren szenischen Leerlauf, unter der Scheibe gibt es ein Kabuff, das Studierstube sein muss, Auerbachs Keller und Gretchenzimmer.
Man mag an dem harmlosen Arrangement schätzen, dass viel Zeit bleibt, der Musik zuzuhören. Nicht hinnehmbar dagegen ist die Art, wie Christian Spuck eine Massenvergewaltigung vertanzen lässt: als ästhetisch organisierten Ringelpietz nämlich, als abgezirkelte Gruppenchoreografie in Zeitlupe. Wer solche Straftaten verniedlicht, handelt grob fahrlässig. Wer da als Intendant nicht einschreitet, verletzt seine Aufsichtspflicht.
Wieder am 27. Februar, 5. und 8. März, 23., 26. und 29. Mai sowie 1. Juni. Aufgrund einer dringenden familiären Angelegenheit hat Donald Runnicles die Vorstellung am 27. 2. an Friedemann Layer abgegeben. Auch das für den 3. März angekündigte Konzert mit dem Orchester der Deutschen Oper muss Runnicles verschieben.