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Cover der Tagebücher von Michail Bulgakow
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Tagebücher und Briefe von Michail Bulgakow: Lebenszeichen aus der frühen Sowjetunion

Einsamkeit, Krankheit, Schwermut, Angst sind die Leitmotive in Michail Bulgakows Tagebüchern. Sie erzählen von den frühen Jahren der Sowjetunion.

Michail Bulgakows Tagebücher aus den Jahren 1921 bis 1926 bieten Impressionen aus der frühen Sowjetunion, die gerade nicht nur den Weltkrieg, sondern den mindestens ebenso entsetzlichen und opferreichen Bürgerkrieg durchlitten hat. Und in der die Utopie nun laufen lernen soll. Viel ist die Rede von Wohnungsnot, Inflation und der desaströsen Wirtschaftslage. Und überall weiterhin Kriegsgefahr, Unruhen, Gewalt – Europa taumelt durch unfriedliche Friedenjahre, auch in China tobt der Bürgerkrieg.

Sowjetische Agenten bemühen sich unterdessen, die Weltrevolution voranzubringen. „Die Kommunistische Partei rackert sich ab, um in Deutschland eine Revolution auszulösen“, notiert Bulgakow im Herbst 1923. Der „deutsche Oktober“ scheitert, führt jedoch zur weiteren Radikalisierung der Rechten. Wenige Wochen vor dem Hitler-Putsch in München schreibt Bulgakow: „Vielleicht sehen wir die Welt wirklich vor einer Generalauseinandersetzung zwischen Kommunismus und Faschismus.“ Das war offenbar ein europäisches Lebensgefühl.

Lenins „Neue Ökonomische Politik“ ließ die Ideologie erst einmal beiseite und machte marktwirtschaftliche Zugeständnisse. So herrscht Gründungsfieber in Moskau, ein Klima der Moderne und auch einer gewissen Liberalität, viele neue Zeitschriften entstehen, oft mit markigen proletarischen Titeln wie „Der Schraubstock“ oder „Der Handbohrer“. Bulgakow läuft von einer Redaktion zur anderen, um „Feuilletons“ an den Mann zu bringen. Viel Ärger und meist geringe Honorare bringt ihm das ein, dazu die Sorge, sich in der „spezifisch sowjetischen sumpfigen Zeitschriftenkloake“ zu kompromittieren.

"Die sowjetische Bürokratie, dieser Höllenschlund, hat alles aufgefressen"

Dass seine Sympathien für die Revolution gering waren, blieb kein Geheimnis. „Sehnsucht nach der Vergangenheit“ attestiert er sich im Tagebuch. 1891 geboren, entstammte er einer bildungsbürgerlichen Kiewer Familie, war im Krieg Militärarzt und schlug sich dann in den Wirren der Revolutionsjahre auf die Seite der „Weißen“, deren Lebenswelt er in seinem ersten Roman „Die weiße Garde“ darstellt. Schon durch diese Themenwahl profilierte er sich als Querkopf in der Sowjetgesellschaft. Und er bestätigte diesen Ruf durch Texte, die sprühenden Modernismus und bissige Komik verbinden, wie die Kurzromane „Das hündische Herz“ (erstmals posthum 1968 in einem Exilverlag erschienen) und „Die verfluchten Eier“. Es sind Satiren auf die kommunistische Idee des „neuen Menschen“ und den von Dilettantismus flankierten Machbarkeitswahn der sowjetischen Biowissenschaft. Nach seinem berühmtesten Roman „Meister und Margarita“ sind auch diese beiden Werke nun in den quecksilbrigen, den Sprachspieler Bulgakows zu Geltung bringenden Neuübersetzungen von Alexander Nitzberg im Berliner Galiani-Verlag zu haben.

Früh wurde Bulgakow angefeindet und denunziert, hatte aber noch Publikationsmöglichkeiten. Das änderte sich 1926, als ihn die Geheimpolizei verhörte und seine Stücke von den Theaterspielplänen abgesetzt wurden. Manuskripte wurden beschlagnahmt, darunter die Tagebücher, in denen die Geheimpolizei Sätze wie diesen lesen konnte: „Die sowjetische Bürokratie, dieser Höllenschlund, hat alles aufgefressen. Jeder Schritt, jede Bewegung eines Sowjetbürgers, ist eine Folter.“ Auf das Tagebuchschreiben hat Bulgakow aus Sicherheitsgründen fortan verzichtet. Zwei Drittel der Texte dieses Buches sind deshalb Briefe, und sie geben erschütternde Auskunft über das Leben des „zum Schweigen verdammten“ Schriftstellers. Vergebens all die Bemühungen, auch nur ein kleines Manuskript irgendwo zum Druck zu bringen. Er versucht sich mit Theaterarbeit durchzubringen, aber er ist mittlerweile so verrufen, dass die Leute schon Angst bekommen, wenn er sich irgendwo bewirbt.

In seiner Verzweiflung schreibt er einen großen Klagebrief an Stalin. Seit Jahren werde er in der sowjetischen Presse nur noch als Mensch mit „hündischer Vergangenheit“ und „literarischer Müllmann“ beschimpft. Und er gibt sich als „glühender Anhänger der Pressefreiheit“ zu erkennen. Ein Schriftsteller, der behaupte, ohne sie auszukommen, gleiche einem Fisch, „der öffentlich versichert, kein Wasser zu brauchen“. Stalin muss geschmunzelt haben über so viel entwaffnende Offenheit.

Ein Ereignis wie aus Kafkas „Schloss“ stimuliert Bulgakows Hoffnungen. Im Jahr 1930 erhält er einen Anruf von Stalin persönlich. Der hat offenbar Gefallen gefunden an dem Schriftsteller, gibt sich freundlich und sagt schließlich den ominösen Satz, der den Autor dann jahrelang umtreibt: „Vielleicht sollten Sie wirklich ins Ausland reisen…“ Es war eine Schimäre. Nie hat Bulgakow die Sowjetunion auch nur für ein paar Wochen verlassen dürfen. Bis zu seinem Tod blieb er dem Land buchstäblich „verhaftet“, ebenso wie seine Literatur. Womöglich dank Stalins Protektion war er in den letzten Lebensjahren, während Hunderttausende dem „Großen Terror“ zum Opfer fielen, als Librettist des Bolschoitheaters beschäftigt.

Einsamkeit, Krankheit, Schwermut, Angst – das sind die Leitmotive dieser Briefe und Tagebuchtexte. Bulgakow, den man sich als Mann voller Lebensmut, Widerstandsgeist, Charme und Witz, wie ihn auch seine Werke haben, vorgestellt haben mag – er war ein literarischer Schmerzensmann, der nie den Druck seiner Hauptwerke erleben durfte. „Ich bereue bitter, die Medizin aufgegeben und mich zu einer unsicheren Existenz verurteilt zu haben“, schreibt er bereits 1923. In weniger angefochtenen Stunden spricht er jedoch von „für die Medizin vergeudeten Jahren“. Und weiß: „Ich kann nichts anderes sein als Schriftsteller.“

Michail Bulgakow: „Ich bin zum Schweigen verdammt“. Tagebücher und Briefe. Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke. Luchterhand, München 2015, 352 Seiten, 24,99 €.

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