Interview mit Sibylle Berg: „Lasst Grass doch in Ruhe auf seiner Wiese sitzen“
In Israel fühlt sie sich körperlich wohl, in der DDR war es ihr viel zu kalt. Warum Sibylle Berg die Piraten wählen würde und in der Schweiz Englisch sprach.
Frau Berg, Sie waren gerade mit einem Kreuzfahrtschiff der Costa-Linie unterwegs. Hatten Sie Angst?
Ein wenig, nachdem ich verstand, warum die Passagiere der Costa Concordia nicht einfach ins Wasser gesprungen sind. Viele Kajüten haben nur ein Bullauge, und diese Cruisingschiffe sind so hoch wie drei Hochhäuser. Es gab eine Evakuierungsübung, danach war klar: Ein solches Schiff kann man nicht evakuieren. Allein 5000 Touristen in Fünferreihen aufzustellen, dauerte fast 50 Minuten. Addiert man dazu Dunkelheit, Panik und ein havariertes Schiff, begreift man den Unsinn der Übung.
Warum waren Sie überhaupt auf Kreuzfahrt?
Ich wollte herausfinden, was so großartig daran ist, in einem Vergnügungspark auf dem Meer herumzufahren. Erst dachte ich: Die Menschen wollen miteinander sein, Romantik erleben, das Traumschiff, sie haben es sich mit anstrengenden Leben verdient. Im Verlauf der Reise wurde mir klar: Sie wollen vor allem All you can eat, und billig, billig wollen sie es. Der Mensch in einer Sardinenbüchse tanzt Samba, und drei riesige Cruising-Line-Unternehmer verdienen Milliarden. Das Elend des Massentourismus hat sich aufs Meer verlagert.
Im Schweizer Magazin „Reportagen“ schreiben Sie: „Selten war mein Gefühl, am falschen Ort zu sein, stärker.“
Ein sehr persönlicher Eindruck, denn es gibt ja durchaus Menschen, die sich in Cluburlauben mit Animation, in Betonhotelburgen und auch bei Swingerpartys pudelwohl fühlen. Aber manches war auch rührend. Etwa eine große Gruppe Behinderter, die sehr viel Spaß hatten. Es ist alles rollstuhltauglich auf einem solchen Schiff, aber ich habe mich schon gefragt: Wie bekommen wir die Menschen eigentlich da runter, in einem Notfall?
Wenn Sie nicht auf einem Schiff sind, reisen Sie gerne nach Israel, das Sie einmal „Land der Extreme“ nannten.
Israel ist ein sehr junges Land, errichtet auf Überlebenswillen, Stolz und Trotz. Die ständige Bedrohung der Existenz, die Anfeindung aus der Welt erzeugen eine gewisse Dünnhäutigkeit im Alltag und eine überbordende Lebenslust. Dazu kommt, dass so viele unterschiedliche Menschen zusammenleben, Araber, Christen, Juden, Äthiopier, Europäer, unbeliebte Siedler, meist aus Amerika. Es ist ein ständiges Sich-Reiben, Bekämpfen, Arrangieren. Ich war gerade bei den Esoterikern im Norden des Landes, in dem die Dichte an Sekten, Veganern, Nudisten besonders hoch ist. Ich habe einen Herrn getroffen, der einen vegetarischen Kibbuz aufgebaut hat. Der Mann klang patent und sympathisch, ab und zu erscheinen ihm Rudolf Steiner und der Erzengel Michael.
Unter Israels Freaks stießen Sie auch auf Deutsche.
Emma Berger etwa, eine schwäbische Urchristin. Sie wäre gerne Jüdin gewesen und ging nach dem Krieg mit anderen Christen nach Israel, einem Spruch Gottes folgend. Dort fragte die Gruppe einen Berater der Regierung, was sie für das junge Land tun könne. Der sagte im Scherz: Oh, Deutsche, macht doch etwas mit Gas. Aber vielleicht ist das nur ein Gerücht. Auf jeden Fall begannen die Urchristen, Gasschutzfilter zu entwickeln, für Bunker, mobile OP-Räume. Die Firma ist heute eine der führenden in der Welt. Sie helfen dem Land außerordentlich.
Was zieht Sie so oft nach Israel?
Ich habe Familie dort, einen Mann aus Israel, viele Freunde. Und ich fühle mich körperlich wohl in dem Land. Ich versuche immer wieder über den normalen israelischen Alltag zu berichten, denn wie sich viele Deutsche im Ausland sofort zu Hitler äußern müssen, werden Israelis als erstes immer zum Nahostkonflikt befragt, den sie genauso wenig beeinflussen können wie Deutsche ihre Geschichte.
Haben Sie sich geärgert, als Günter Grass dichtete, er wolle über Israel sagen dürfen, „was gesagt werden muss“?
Mich hat vor allem die Wucht der Diskussion verstört. Der Mann ist ungefähr 119, ich weiß auch nicht, was ich in dem Alter schreiben werde. Lasst ihn doch in Ruhe auf seiner Wiese sitzen, das ist Demokratie.
Sie kommen viel herum. Gibt es Länder, in die Sie nicht fahren würden?
Ich würde nicht in Länder reisen, in denen ich mich als Frau nicht frei bewegen kann. Vermutlich würde ich heute auch nicht mehr in Kriegsgebiete reisen. Ich schaue heute lieber Wände an, als mich manisch durch die Welt zu bewegen, die ich in ihrer Komplexität sowieso nie verstehen kann.
Und Weimar, aus dem Sie in den 80ern geflohen sind?
Das ist natürlich ein sehr gefährlicher Ort. Ich war seit fast sechzehn Jahren nicht mehr dort und weiß nicht, was sich verändert hat. Ich bin gespannt darauf, wie es mir und der Stadt heute miteinander geht.
Kapitalistische und kommunistische Gehirnwäsche
Ihr neuer Roman „Vielen Dank für das Leben“ beginnt in der DDR, die Sie als Land der Alkoholiker zeichnen.
Alkohol war eine sehr verbreitete, weil billige Droge, und ohne Drogen funktionierte die Unterdrückung der Bevölkerung nicht.
Welche Erinnerungen haben Sie noch?
Die Angst vor Kälte. Ich wurde groß mit kaltem Wasser, das mit einem Kohleofen erhitzt werden musste, einer Badewanne im Keller, in die man aus dem Waschkessel Wasser schöpfte, dazu Kanonenöfchen, die gerade mal im Umfeld von einem Meter heizten. Falls man nicht vergessen hatte, Kohle zu bestellen. Wenn man nicht das Privileg hatte, in einem Plattenbau wohnen zu können, war es kalt.
Der Roman handelt von Toto, der in der DDR ins Heim kommt, in den Westen flieht, auf der Straße lebt, eine Figur, die in kein System passt.
Toto ist der Außenseiter, das Denkmal für alle, die sich aussetzen, die am Rande stehen – weil sie anders sind, nicht Normen entsprechen, wegen ihres Äußeren, ihrer Sexualität. Ich möchte zeigen, dass man dennoch unverletzt durch das Leben kommen kann, unbeschadet von allem, was allen von uns immer passiert. Die Demütigungen des Verlassenwerdens, der Krankheit, des Verlustes. Totos Geheimnis ist, nichts persönlich zu nehmen und seine Freundlichkeit zu behalten.
Toto ist Intersexueller. Wie kamen Sie auf das Thema?
Ich wollte eine Figur, die keine Frau und kein Mann ist. Der Prototyp des Menschen. Das ist meine Utopie einer Welt ohne Geschlechterzuweisungen. Bis ins frühe 19. Jahrhundert mussten sich Intersexuelle nicht entscheiden, welchem Geschlecht sie zugehören wollen. Das kam erst um 1830.
Toto verlässt die DDR mit Anfang 20. Als Sie 1984 nach West-Berlin kamen, waren Sie genauso alt. Ihr erster Eindruck damals?
Völliges Unverständnis, ich hätte auch in Nauru ankommen können. Ich habe fünf Jahre gebraucht, bis ich die Spielregeln ansatzweise begriff, die waren elementar anders. Allein der Unterschied, mit oder ohne Geld, das etwas bedeutete, aufzuwachsen! Die Sozialisierung durch kommunistische oder kapitalistische Gehirnwäsche war fundamental.
Sind Sie deswegen in die Schweiz gegangen?
Meine erste Reise ins Ausland war die ins Tessin. Ich hatte einen Platz an der Artistenschule „Scuola Dimitri“ bekommen. Das erste Mal wirkliche Freiheit, nach dem umzäunten West-Berlin und dem Lager war die Schweiz. Ein Ossi sieht Berge und Palmen. Sie wissen schon.
Was haben Sie dort gemacht?
Akrobatik, Pantomime, Jonglage, Tanz … Meine rührende Idee war, Tanztheater zu machen, weil ich dachte, da müsste ich nicht reden. Leider hatte ich nicht bedacht, dass ich auf Bühnen hätte stehen müssen, was mir großes körperliches Elend macht. Durch Unterernährung und Kälte habe ich Gelenkrheuma bekommen, das zusammen mit meiner Talentlosigkeit meiner Bühnenlaufbahn ein rassiges Ende gesetzt hat.
Ihr Traum wurde dennoch wahr, seit 1996 leben Sie in Zürich.
Es war eine Liebesgeschichte zwischen dem Land und mir. Als ich in die Schweiz kam, haben sich die Menschen sehr gefreut, dass jemand in eine Stadt zog, in der alle Restaurants und Bars um 22 Uhr schlossen. Ich habe mich von Anfang an mit der etwas langsameren Art und dem Humor der Menschen zu Hause gefühlt. Es ist meine Heimat, wenn das meint, dass man sich nach einem Ort sehnt, wenn man weg ist.
Hat Sie die Schweizer Ordnungswut nie genervt?
Nein, Ordnung hat man doch auch in Deutschland sehr gerne. Manchmal stört mich die Selbstgerechtigkeit der Schweizer, die ihre privilegierte Situation für den Verdienst ihres Landes halten oder mit einer moralischen Überlegenheit verwechseln. Einmal wollten Nachbarn gegen mich prozessieren, weil ich Bambus im Garten pflanzte – weil das keine Schweizer Pflanze sei. Doch das sind Ausnahmen.
Wie gehen Sie mit der Schweizer Deutschenfeindlichkeit um?
Es ist eine interessante Erfahrung für Deutsche zu spüren, wie sich Migranten vermutlich schon lange in Deutschland fühlen. Ungewollt, misstrauisch beobachtet. Dass ich eine Zeitlang lieber Englisch redete als Deutsch und bewusst extra extrem absurd freundlich war, um nicht aufzufallen, ist eine merkwürdige neue Verformung, die mir die Liebe zu dem Land kurzfristig schwer gemacht hat.
Gibt es etwas, was Sie eingewanderten Deutschen raten können?
Ich würde versuchen, so schnell wie möglich den Schweizer Dialekt und Humor zu verstehen. Und ein paar grobe Fauxpas’ vermeiden: angeben, Geld zeigen, laut sein.
Laut sind Sie ja nicht. Aber Sie twittern unter dem Motto „Kaufe nix, ficke niemanden“. Was schätzen Sie an Twitter?
Twitter ist eine gute Alternative für alle, denen Facebook zu seltsam erscheint. Ein Medium, in dem man sehr schnell den Überblick über das Tagesgeschehen hat, sich so tief informieren kann, wie man will, und zudem noch in einem Kontakt zur Welt steht.
Jonathan Franzen nannte Twitter wegen seiner Kurzatmigkeit „verantwortungslos“.
Sicher sind die sozialen Medien, wie auch die Foren und Kommentarfunktionen unter allen Onlineartikeln ein Vehikel der schnellen Entladung. Verzweifelt rührend zu glauben, dass man durch schnelle Erregung Politik bestimmen kann. Da finde ich die Logik der Piraten folgerichtig. Sich politisch einmischen statt zu schimpfen.
Würden Sie die Piraten wählen?
Ich bin in Deutschland nicht wahlberechtigt. Ansonsten: ein klares Ja. Anfangsschwierigkeiten gab es bei den Grünen auch. Die Piraten könnten der Beginn einer direkten Demokratie sein. Ein richtiger Schritt zu mehr Selbstbestimmung der Bürger und eine Abschwächung der Macht von Lobbys. Eine Mischung zwischen Piraten und Grünen mit direkter Demokratie wäre für mich optimal.
"Jeder wird mit dem, was er schreibt, verwechselt."
Eine Zeitlang haben Sie Schreibkurse angeboten, Titel „Die harte Schule“. Wie hat man sich das vorzustellen?
Die Idee habe ich aus Österreich, wo ich Onlinedozentin für Dramaturgie an der Universität Graz war. Brillanter Einfall, Schreiben dort zu lehren, wo es stattfindet. Meinen Schülern helfe ich, ihre Themen zu konkretisieren, sie zu bestärken. Eine Schülerin zum Beispiel wollte ein zehnbändiges Werk über Elfen verfassen. Sehr gut. Warum nicht?
Eine Woche Kurs kostete 500 Euro. Konnte man danach wenigstens schreiben?
Schreiben, einigermaßen technisch zufriedenstellend, kann man ungefähr nach fünf Jahren täglicher Übung. Ein Monatskurs bei mir kostet 500 Franken. Kostete, weil ich im Moment keine Zeit mehr für die Schule habe. Ich vermittle Grundlagen. Wie man eine Geschichte aufbaut oder: Adjektive töten! Manche Schüler reagieren, wie ich auch reagieren würde: böse, weil sie an die Brillanz ihrer Zeilen glauben. Ich habe auch schon Geld zurückgegeben. Denn ich möchte nicht diskutieren, warum „das goldhelle Lachen der glücklichen Elfenmutter“ eine unglückliche Formulierung ist.
Wer sind Ihre Schüler?
Die Schüler waren eher jüngere Menschen, gleich viele Frauen wie Männer, die meisten Hobbyschreiber, und manche waren sehr gut. Einmal hatte ich einen 12-jährigen Jungen, der erstaunlich erwachsen über Frauen schrieb. Sehr rätselhaft. Ein normaler Junge, die Eltern kamen mit ihm zu meiner Agentin. Ich riet ihm: Schreib über dein Leben, das will man lesen.
Und – ist er das neue Literaturwunderkind?
Nein, er fand es besser, Fußball zu spielen.
Toto aus „Vielen Dank für das Leben“ findet in seinem Elend Trost im Gesang. Ist das nicht sehr bildungsbürgerlich gedacht, dass einen die Kunst vor dem Leben retten kann?
Ich stamme aus einem bildungsbürgerlichen Umfeld. Für mich ist Kunst und Liebe und gutes Essen das Sinnstiftende in meinem Leben.
Sie schrieben einmal: Den nächsten, der Sie zum Thema Selbstinszenierung befragt, schmeißen Sie aus dem Fenster.
Das ist vollkommen vom Körpergewicht des anderen abhängig. Was oft als Selbstinszenierung kolportiert wird, meint doch nur den Umstand, dass ich mich ankleide, das Haus verlasse, dass ich, wenn ich ein neues Theaterstück oder Buch fertiggeschrieben habe, versuche, es bekannt zu machen, die Menschen zu informieren in einer Überflut von Produkten, die keiner benötigt. Alles, was als Selbstinszenierung beschrieben wurde, ist eine Verwechslung. Eine scheinbare Verfügbarkeit meiner Person, die ich nicht einlöse, das frustriert.
Anders als die meisten Schriftsteller sind Sie in den sozialen Medien präsent, haben Kontrolle über Ihr Bild in der Öffentlichkeit.
Das ist eine niedliche Idee. Man kann das Bild von sich nur beeinflussen, wenn man einen Stab an PR- Beratern und Anwälten hat. Ich kenne in Deutschland niemanden, dem das nach amerikanischem Vorbild gelänge. Ich möchte behaupten, dass kein Schriftstellerkollege sein Bild in der Öffentlichkeit vollkommen manipulieren kann. Jeder wird mit dem, was er schreibt, verwechselt, die meisten sind privat recht angenehme Personen, die mit ihrem öffentlichen Bild hadern, was ja auch nicht so furchtbar ist. Denn am Ende sind wir alle tot.