Tanz im August: Lass mich dein Proton sein
Teilchen, die durcheinanderschwirren: „Quantum“ von Gilles Jobin und „Bronze by Gold“ von Stephanie Thiersch beim Festival "Tanz im August".
Wir bestehen alle aus Sternenstaub. Das behaupten die Physiker, und das sieht auch Gilles Jobin so. Der Schweizer Choreograf wurde während einer dreimonatigen Residenz am europäischen Forschungszentrum für Kernphysik CERN in Genf von Wissenschaftlern in die Geheimnisse der Teilchenphysik eingeweiht. In „Quantum“, das beim „Tanz im August“ zu sehen war, versucht er nun, die Gesetze der Teilchenphysik auf den Tanz anzuwenden. In den Teilchenbeschleuniger, den Large Hadron Collider (LHC), in dem Protonen mit unvorstellbarer Energie aufeinanderprallen, konnte er seine Tänzer natürlich nicht stecken. Dafür hat die Komponistin Carla Scaletti ihrem Soundtrack Daten des LHC zugrunde gelegt, Das Sirren, Klirren und Dröhnen verdichtet sich zum kosmischen Noise.
Zu Beginn vibrieren und zucken die Körper, als würden sie unter Strom gesetzt. Doch statt „kreativer Kollisionen“ sieht man erst mal ein Klammern, bis die drei Paare sich aufspalten. Fortan agieren die Tänzer ohne Kontakt, denn es sollen die Wechselwirkungen der Teilchen veranschaulicht werden. Energiewirbel, eine Wolke aus Atomen assoziiert man aber nicht unbedingt, wenn die sechs Tänzer über die Bühne schwirren und sich umkreisen. Die Spiralen und Kettenreaktionen, die Jobin ersinnt, sind dekorativ, doch die Choreografie wirkt uninspiriert und erstaunlich schlicht. „Quantum“ bescherte dem „Tanz im August“ keine Sternstunde. Es mutet altbacken an und liefert keine neuen Erkenntnisse.
Stephanie Thiersch mit "Bronze by Gold" im Radialsystem
An Teilchen, die durcheinanderschwirren, erinnern auch die Tänzer von Stephanie Thiersch. Die Kölner Choreografin präsentierte im Radialsystem die Uraufführung von „Bronze by Gold“. Thiersch lässt die sieben Tänzer ihrer Kompanie Mouvoir auf die Musiker des Asasello-Quartett prallen. Wie zu erwarten, rücken die Performer den Instrumentalisten heftig auf die Pelle, doch die stellen nicht nur Spielfreude unter Beweis, sondern bringen auch Standvermögen mit.
Thiersch zeichnet das Porträt einer Generation, die auf der permanenten Suche nach Ekstase ist. Anfangs sieht man den Katzenjammer nach dem Rausch. Die Tänzer liegen erschlafft auf der Bühne, bis die elektronischen Beats von DJ Elephant Power sie zu neuem Leben erwecken. Wie auf Knopfdruck katapultiert die Disco-Meute sich in ausgelassene Feierlaune. Sie suchen den Zusammenhalt der Gruppe, das Einssein im Kollektivkörper. Doch wenn die Gruppe zerfällt, taumeln sie wie haltlos über die Bühne und werfen sich dem Nächstbesten an den Hals. Flüchtig sind diese Begegnungen – und ruppig.
Die Musiker spielen sich in Rage
Das Asasello-Quartett schlägt immer wieder Schneisen in die Elektrosounds. Wenn sie Beethovens furiose „Große Fuge“ op. 133 aufführen, werden sie auf einem Podest über die Bühne gerollt. Die Tänzer drängen sich zwischen die vier Musiker, sodass man an ein Floß auf hoher See denken muss. Bald fallen die ersten über Bord. Immer wieder zeigt die Choreografin Bilder, die den Moment nach einer Katastrophe einfangen sollen. Doch es überzeugt nicht immer, wenn die stillgestellte Gruppe große Emotionen wie Furcht oder Entsetzen mimen muss. Unter der Oberfläche der Rave-Verzückung brodelt es – das ist die Botschaft von „Bronze by Gold“.
Einen Tanz auf dem Vulkan will Thiersch zeigen. Kommen die Musiker ins Spiel, erhalten die Szenen stärkere Ausdruckskraft. Zum Schluss spielen die Musiker sich regelrecht in Rage beim „Raga f“ von Hikari Kiyama, der von Trance und Death Metal inspiriert ist.
Die Klänge werden elektronisch verzerrt, auch die Tänzer ziehen an den Musikern, reißen sie zu Boden. Die Streicher schlagen zurück, bohren den Tänzern den Geigensteg in die Brust oder den Stachel des Cellos in den Bauch. Die entfesselten Klang-Körper sind packend choreografiert. „Bronze by Gold“ mündet in der völligen Verausgabung. Nur der DJ dreht weiter an seinen Turntables.
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