Ezra Pound: Lass den Wind reden
Ein Jahrhundertwerk: „Die Cantos“ von Ezra Pound in einer zweisprachigen Gesamtausgabe. Das Werk wirkt zunächst chiffrenhaft, unausdeutbar. Aber dann berührt die unmittelbare Kraft eines Verses, die Schönheit eines Bildes, die präzise Andeutung einer Atmosphäre. Plötzlich erhebt sich eine lockende Melodie aus der rhythmisierten Überfülle unbekannter Namen und Sprachen, Zitate und Anspielungen.
Einhundertundneun Gesänge nebst einigen Fragmenten, ein halbes Jahrhundert Arbeit. Monarchien vergingen, Republiken wurden gegründet, Diktatoren siegten und scheiterten, zwei große Kriege verwüsteten das Antlitz der Erde. Zwischen 1910 und 1960 hat Ezra Pound an seinem Gedicht „The Cantos“ geschrieben. Die Nachwelt steht vor einem tausendseitigen Gesang. Einer Großdichtung, die alle Schichten der Historie und alle Kulturkreise durchpflügt, dabei von Wirtschaft, Politik, Krieg und Kunst erzählt. Die pausenlos Stimmen heraufruft, die zu realen oder mythischen Helden der Geschichte gehören.
Mehr als ein Dutzend lebender und toter Sprachen werden verwendet, Zitate aus den Verwaltungsakten der Renaissance-Republik Venedig stehen neben einem Abriss der Zinsentwicklung in Britisch-Indien, Imitationen von Homers „Odyssee“ und Dantes „Divina commedia“ neben Nachahmungen des Minnesangs provenzalischer Troubadours, der Vortragskunst altenglischer Balladensänger, des bildreichen Philosophierens im Alten China. Dabei alle Motive ineinander verschlungen, Bildblock türmt sich auf Bildblock, Gedankensprung reiht sich an Gedankensprung.
Ezra Pound, geboren 1885 im US-Bundesstaat Idaho, gestorben 1972 in Venedig. Bevor ich sterbe, will ich das größte Gedicht schreiben, das jemals geschrieben worden ist, hatte bereits der 22-Jährige seinen Eltern mitgeteilt. Eine erste deutsche Gesamtausgabe von „The Cantos“ ist nun auf dem Markt, eben wurde die Leistung der Übersetzerin Eva Hesse mit dem Preis der Leipziger Buchmesse gewürdigt. Zwei Kilo Poesie, herausgegeben und kommentiert von den Literaturwissenschaftlern Heinz Ickstadt und Manfred Pfister. Für Eva Hesse ist dieses Buch die Vollendung eines Lebenswerks, jahrzehntelang hat sie immer neue Teile des Gedichtes übersetzt und sich dabei eindrucksvoll auf dem schmalen Grat zwischen Werktreue und künstlerischer Eigeninitative bewegt, um ein exzentrisches amerikanisches Genie dem deutschsprachigen Publikum versteh- und genießbar zu machen.
Die „Cantos“ sind Zeugnisse einer verschlungenen, weit ausgreifenden Forschung
Die „Cantos“. Der Leser steht vor einem esoterischen Text. Alles an diesem proteischen Gebilde wirkt chiffrenhaft, unausdeutbar. Aber dann berührt die unmittelbare Kraft eines Verses, die Schönheit eines Bildes, die präzise Andeutung einer Atmosphäre. Plötzlich erhebt sich aus der rhythmisierten Überfülle unbekannter Namen und Sprachen, rätselhafter Auszüge aus uralten Dokumenten, nicht zu identifizierender Zitate und Anspielungen eine lockende Melodie. Fremdes und Fernes scheint machtvoll anwesend. Die Toten sind nicht tot. Das Geheimnis des Sinns wird begehrenswert.
Die „Cantos“ sind Zeugnisse einer verschlungenen, weit ausgreifenden Forschung. Ihr Autor wandert durch den zeitlichen und geografischen Raum der menschlichen Geschichte, er durchforscht die Dokumente der Kulturen, ihre Chroniken, religiösen und wissenschaftlichen Systeme, ihre Lieder, getrieben von der Suche nach Ordnungen im Prozess. Er interessiert sich für Kulturen, die vollendete ästhetische Formen schufen, für Orte, an denen Menschen friedlich miteinander leben konnten, für die klugen Lenker der Staaten.
Wo immer er auf seiner Reise Gelingen oder lehrreiches Scheitern entdeckt, nimmt er es auf in seinen Gesang. In größtmöglicher Authentizität will er die Funde bergen, durch Zitat, Imitation von fremden Stimmen, Rückgriff auf Originalsprachen. Der Leser soll gleich ihm hinabsteigen in eine Zone des Geistigen, wo Begriff und Idee sich aus der sinnlichen Anschauung erst formen. Wahre Poesie, so Pound, schafft sinnliche Zusammenhänge, die die Motorik des Geistes in Gang setzen, das Denken in ein lebendiges, energetisches Schwingen verwandeln. Deshalb schreibt er in radikaler Collagetechnik, türmt Bild auf Bild, stürzt Raum und Zeit ineinander, lässt den Tonfällen und Sprachen freien Lauf.
„Ich versuchte ein Paradies zu schreiben“, heißt es im letzten Fragment der „Cantos“. „Rühre dich nicht / lass den Wind reden / So ist es das Paradies.“ Am Ende bleibt Pound schwerste Melancholie nicht erspart, die Furcht, sein Werk könne nur ein monomaner Traum gewesen sein. Seine politischen Verstiegenheiten hat er da schon lange bereut, die Verirrung in jenen ideologischen Hass, der für sein Jahrhundert so typisch gewesen ist. All das bezahlt mit zwölfjähriger Internierung in einer amerikanischen Klinik für Geisteskranke, wodurch aber die Arbeit an den „Cantos“ nur unwesentlich aufgehalten wurde.
Pound ist heute ein Fixstern am Literaturhimmel, die „Cantos“ eine enorme Masse Literatur mit noch immer beachtlicher Reststrahlung. Ein staunenswerter Versuch, das maßlos Disparate der Welt durch kühnste poetische Technik in einem Bewusstseinsuniversum zusammenzuzwingen. Als Dichter ging Pound die Wege letzter ästhetischer Radikalisierung, auf denen ihm niemand folgen konnte noch wollte. Von seinem Werk hat dennoch fast jede nachfolgende Dichtung profitiert, wo sie wirklich zeitgemäß und bedeutend war.
„Künstler sind die Fühlhörner der Gattung“, heißt es im „ABC des Lesens“, einer kleinen Schrift Pounds aus den frühen Dreißigern. Zeitgleich mit der Gesamtausgabe der „Cantos“ ist das schmale Bändchen im Arche Verlag neu aufgelegt worden. Pounds ABC will eine Fibel für Schüler der Dichtkunst sein, ein Kursus zum rechten Verständnis der Poesie, eine kleine Stilkunde der englischen Literatur. All das in Paragrafenform vorgetragen, mit apodiktischem Schwung und dem fröhlichen Selbstbewusstsein eines Mannes, der sicher ist, dass er weiß, wovon er redet. Über Genie und Talent, so Pound im neusachlichen Geist der frühen Dreißiger, ist alles gesagt, aber das Schreiben und Lesen von Gedichten erfordert eben auch Übung, darf getrost als Handwerk betrachtet werden. Mehr guten Sport, auch in der Dichtkunst.
Literatur, die ihren Namen verdient, heißt es in Pounds herzerwärmend amüsanter Fibel, ist Neues, das neu bleibt. Der Ausweis des Klassischen ist seine unvergängliche Frische. Womit sich der Bogen zu „The Cantos“ beinahe mühelos geschlossen hätte.
Ezra Pound: Die Cantos. In der Übersetzung von Eva Hesse. Ediert und kommentiert von Heinz Ickstadt und Manfred Pfister. Zweisprachige Ausgabe deutsch-englisch. 1480 Seiten, 98 € – ABC des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Eva Hesse. 138 Seiten, 14,95 €. – Beide erschienen im Arche Literatur Verlag, Zürich/Hamburg.
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