Politik und Aktion im Theater: Kunst oder Keule
Wenn Theater zur Eingreiftruppe wird: Politische und humanitäre Katastrophen verändern das Spiel und die Regeln. Ein Essay.
„Schluss mit Konzerten gegen rechts!“, ruft Sophie Rois in René Polleschs „House for Sale“ an der Berliner Volksbühne energisch. Und empfiehlt statt ewiger Aufklärungskunst Waffengewalt: Sie glaube nicht, dass diese Typen, die sich täglich die Springerstiefel schnüren, eine Satire umhaue, flötet die Schauspielerin in ihrem unnachahmlichen Tremolo über die Rampe. „Ein schöner Baseballschläger hingegen...“
Was die Volksbühne hier in gewohnter Provokanz benennt, ist das alte Kunst-Problem: Was können schon symbolische Akte gegen reale Tragödien ausrichten? Und da es an realen Tragödien zurzeit nicht mangelt, hat das künstlerische Ohnmachtsgefühl Hochkonjunktur. Die Dramaturgin einer Inszenierung über Bürgerkriegsflüchtlinge am Theater Bremen bekannte kürzlich: „Einfacher wäre es vielleicht gewesen, den gesamten Produktionsetat zu spenden und ein Pappschild auf die leere Bühne zu stellen, mit der Aufforderung, sich Gedanken über das eigene Verhältnis zum Thema zu machen.“
Es gibt eine aktuelle Aufführung, die dieses Dilemma so scharfsinnig auf den Punkt bringt, dass man sie guten Gewissens zur intellektuell anregendsten Bankrotterklärung des Repräsentations-Theaters adeln kann: Nicolas Stemanns grandiose Elfriede-Jelinek-Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“ vom Hamburger Thalia Theater, die im Mai auch zum Theatertreffen nach Berlin kommt.
Ertrunkene Flüchtlinge lassen sich auf der Bühne nicht darstellen
Die Literaturnobelpreisträgerin verwebt in ihrem Stück Flüchtlingsschicksale mit dem antiken Drama „Die Schutzflehenden“ des Aischylos und zynischer Zuwanderungsbroschüren-Prosa des österreichischen Innenministeriums zu einem Flüchtlingsklagechor. Und Stemann überträgt die buchstäbliche Unfassbarkeit dieser Tragödien, die sich an den europäischen Außengrenzen ereignen und die der Text umkreist, minuziös auf deren Nicht-Darstellbarkeit im Theater.
Er lässt die Jelinek-Klage erst von hell-, dann von dunkelhäutigen Schauspielprofis, von Männern und Frauen, Akteuren mit und ohne Akzent und schließlich von afrikanischen Flüchtlingen sprechen – wobei jede Variante gleichermaßen strukturell deplatziert wirkt. Denn wer spricht da eigentlich, wenn afrikanische Flüchtlinge eine österreichische Autorin rezitieren, die ihrerseits – als Repräsentantin der europäischen Gated Community – aus der Perspektive eines Flüchtlings-Wirs schreibt?
Wer anderen, wie wohlmeinend auch immer, seine Stimme leiht, nimmt ihnen die eigene zugleich weg. Das Paradoxwird bei Stemann und Jelinek nicht ausgeblendet, sondern nach allen Regeln der Kunst durchreflektiert. „Wir können euch nicht helfen“, lautet der Offenbarungseid, den die Schauspieler den Flüchtlingen zurufen, „wir müssen euch doch spielen!“
Was aber fängt die Bühnenbranche nun an mit dieser messerscharfen, selbstkritischen Auslotung ihrer künstlerischen Grenzen? In vielen Fällen freilich gar nichts. Wir alle kennen die Abende, an denen sich die schlechte Wirklichkeit stilsicher in schlechtem Theater fortsetzt. Im interessanteren (und vornehmlich in der internationalen Performance-Szene anzutreffenden) Fall allerdings versucht das Bühnen-Genre dieser Tage mal wieder verstärkt, reale Defizite nicht nur vielschichtig dar-, sondern einfach mal abzustellen. Es rafft sich auf von der darstellenden zur Eingreif-Kunst.
In den letzten Jahren, konstatiert der Festivalkurator Florian Malzacher in dem „Truth is concrete“ („Die Wirklichkeit ist konkret“), sei der Wille zur Politisierung des Ästhetischen zusehends in einer Art Ästhetisierung des Politischen eingefroren. Das Bewusstsein von der Komplexität der Welt habe in eine künstlerische Sackgasse geführt, weil es oft nur als Entschuldigung für intellektuellen Relativismus gedient habe. Zu Tausenden im Mittelmeer ertrinkende Menschen sind allerdings schwer relativierbar.
Deshalb fanden sich bereits vor drei Jahren beim Festival Steirischer Herbst in Graz, das Malzacher seinerzeit leitete, über zweihundert Künstler und Aktivisten, Praktiker und Theoretiker zusammen, um eine Woche lang nonstop über konkrete künstlerische Eingreifstrategien nachzudenken. Frei nach dem handfesten Marx-Motto „Kunst ist nicht ein Spiegel, den man der Wirklichkeit vorhält, sondern ein Hammer, mit dem man sie gestaltet“, verbindet die Disziplin der Stunde Kunst (art) und politischen Aktivismus (activism) zum „Artivism“. Das von Malzacher herausgegebene Buch lässt sich auch als Anleitung zum Selber- und Bessermachen lesen. Es versammelt 99 Eingreifstrategien; von weckrufartiger Aktionskunst in der Nachfolge Christoph Schlingensiefs bis zum „Artruism“. So hat der türkische Künstler Ahmet Ögüt mit der „Silent University“ eine rigide Einwanderungsrichtlinien unterlaufende Institution geschaffen, wo Flüchtlinge und Asylsuchende mit akademischem Hintergrund unterrichten und ihrer Qualifikation entsprechend arbeiten können.
Der „Erste Europäische Mauerfall“ bringt Wesen und Wirkung der Eingreifkunst auf den Punkt
Der „Erste Europäische Mauerfall“ bringt Wesen und Wirkung der Eingreifkunst auf den Punkt
Ein auffälliges Berliner „Artivism“-Beispiel ist die Aktion „Erster Europäischer Mauerfall“ des Zentrums für politische Schönheit, die sich nicht nur deshalb noch einmal ausführlich zu betrachten lohnt, weil ihr Initiator Philipp Ruch am Mittwoch im Berliner HAU mit Künstler-Kollegen über „Das Recht der Kunst“ diskutieren wird. Sondern auch, weil die Aktion Wesen und Wirkung der Eingreifkunst exemplarisch auf den Punkt bringt.
Der „Erste europäische Mauerfall“ fand im Rahmen eines thematischen Festivals des Maxim Gorki Theaters im November 2014 statt, als Berlin gerade mit einer „Lichtgrenze“ auf dem einstigen Todesstreifen und Volksfeststimmung am Brandenburger Tor den 25. Jahrestag des Mauerfalls feierte. Die Bundeskanzlerin hielt damals eine Rede, deren Botschaft – „Träume können wahr“ und „weitere Mauern eingerissen“ werden – sich ausdrücklich auch „an die Menschen in Syrien“ und „vielen anderen Regionen unserer Welt“ richtete, „in denen Freiheits- und Menschenrechte ... mit Füßen getreten werden.“
Ruch nahm diese Botschaft wörtlich und entfernte vorübergehend vierzehn Gedenkkreuze für Berliner Mauertote aus dem Regierungsviertel, um mit ihnen an die Außengrenzen der EU zu fahren und auf „die neuen Mauertoten Europas“ aufmerksam zu machen. Außerdem brachen „friedliche Revolutionäre“ an die europäische Außengrenze in Bulgarien auf, um Grenzanlagen abzubauen.
Die Resonanz auf die Mauerkreuz-Aktion war gewaltig. Berlins Innensenator Frank Henkel sprach von einer „verabscheuungswürdigen Tat“, die Berliner Polizei von einem „Fall besonders schweren Diebstahls“ und die Tageszeitung „Die Welt“ vom „hirnrissigsten Dreck, der in der jüngsten Zeit aus deutschen Theatern gekommen“ sei, wohlgemerkt „gegen starke Konkurrenz“. Dass jeder das Recht hat, derartige Artivismen misslungen zu finden, steht außer Frage.
Andererseits: Sich „Je suis Charlie“ oder den Aufruf „für ein weltoffenes Land“ auf die Website zu schreiben, wie es viele Stadt- und Staatstheater jüngst als Reaktion auf die Attentate von Paris beziehungsweise auf Pegida-Demonstrationen getan haben, mag ehrenwert sein. Aber kaum jemand dürfte sich ernsthaft der Illusion hingeben, dass es über bloße moralische Selbstbestätigung hinausgeht, wenn weltoffene Schauspieler ebensolchen Theatergängern auf Anti-Pegida-Lesungen die Ringparabel aus „Nathan der Weise“ vortragen. Aktionen wie die des Zentrums für politische Schönheit funktionieren dagegen gerade als erhellende Störfälle dieses sich selbst bestätigenden Konsenses.
Wie viel Prozent „Art“ stecken überhaupt noch im „Artivism“?
Denn darum, das DDR-Regime mit der Bundesregierung oder dem EU-Parlament beziehungsweise die realsozialistischen Grenztruppen mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex gleichzusetzen, wie viele Kritiker dem Zentrum für politische Schönheit vorwarfen, ging es dem Philosophen Ruch in seiner Mauerkreuz-Aktion vermutlich nicht. Ruchs Zuspitzung ist künstlerisches Mittel zum höheren Rezeptions-Zweck: Es geht um die Schaffung einer Situation, die uns Konsensgesellschafter zur Veröffentlichung unserer Widersprüche zwingt. Wer, wie in der Reaktion auf den „Ersten Europäischen Mauerfall“ vielfach geschehen, beklagt, dass die „Würde der Mauertoten“ „mit Füßen getreten“ werde, provoziert automatisch die Frage, wie es um die Menschenwürde an Europas Grenzen steht.
Wer sich jetzt, durchaus nicht zu Unrecht, fragt, wie viel Prozent „Art“ überhaupt noch im „Artivism“ stecken, sei an den Philosophen und Mathematiker Antanas Mockus erinnert. Als der 1995 Bürgermeister von Bogotá wurde, entließ er zuerst die korrupte Verkehrspolizei und stellte stattdessen 400 Pantomimen ein. Für ihr Fehlverhalten von Mimesis- und Ironie-Fachkräften durch den Kakao gezogen zu werden, glaubte das neue Stadtoberhaupt, würde potenzielle Verkehrssünder wirksamer abschrecken als Bußgeld. Und weil Bogotá bei Mockus’ Amtsantritt als eine der gefährlichsten Städte der Welt galt, gab es außerdem Performances an offenen Gräbern. Nun mögen Pantomine und Friedhofs-Performances nicht unter akutem Hochkulturverdacht stehen. Tatsache ist, dass die Zahl der Verkehrsunfälle und die Mordrate während Mockus’ Amtszeit erheblich sanken.
Sobald niemand mehr im Mittelmeer ertrinkt, können wir uns also getrost auf die Wiedererhöhung des „Art“-Faktors stürzen. Dann nehmen Künstler gern auch wieder feinmotorischere Werkzeuge in die Hand.
Am 18. Februar, 19 Uhr, im HAU 1 diskutieren Philipp Ruch, Borka Pavicevic und Jonas Staal in der Reihe „Phantasma und Politik“ über „Das Recht der Kunst“.
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